Die Wirtschaftsweisen erhöhen den Druck auf die Bundesregierung: Wegen der zunehmenden Vermögensungleichheit in Deutschland fordern sie eine tiefgreifende Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Das Beratergremium kritisiert, dass gerade hohe Erbschaften und Schenkungen oft „nur vergleichsweise gering besteuert“ werden, wie es in dem am Mittwoch veröffentlichten Jahresgutachten heißt.
Konkret schlagen die Regierungsberater vor, die steuerlichen Begünstigungen für Betriebsvermögen deutlich zu reduzieren. Bei Vermögen über 26 Millionen Euro sollten sie vollständig abgeschafft werden. Für niedrigere Werte soll die Verschonung auf ein Minimum begrenzt bleiben. Um die Liquidität der Unternehmen zu sichern, empfehlen die Experten „großzügige Stundungsregelungen“ über mehrere Jahre.
Zentraler Punkt ist zudem der „Lebensfreibetrag“: Statt alle zehn Jahre erneut steuerfrei Vermögen zu übertragen, sollen Bürger künftig nur noch einmal im Leben einen bestimmten Freibetrag ausschöpfen dürfen. „Das würde bedeuten, dass die Steuerlast ausschließlich von der Höhe des übertragenen Vermögens abhängt – nicht mehr vom Zeitpunkt der Übertragung“, erklärte der Wirtschaftsweise Achim Truger.
Der Vorschlag stößt jedoch nicht auf einhellige Zustimmung. Ratsmitglied Veronika Grimm nannte die Idee „fahrlässig“ und warnte vor negativen Effekten auf Investitionen und Wachstum. Eine Reform dürfe „die ohnehin schwache private Investitionstätigkeit nicht weiter abwürgen“.
Politisch steht das Thema längst auf der Agenda. Die SPD befürwortet einen Lebensfreibetrag und eine stärkere Besteuerung großer Firmenerbschaften, während die Union vor „Belastungen für den Mittelstand“ warnt.
Brisanz erhält die Debatte auch durch ein anhängiges Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht: Die Karlsruher Richter prüfen, ob die Steuerprivilegien für Firmenerben überhaupt verfassungsgemäß sind. Sollte das Gericht sie kippen, wäre die Bundesregierung zum Handeln gezwungen – und die Reform der Erbschaftsteuer unausweichlich.
OZD
OZD-Kommentar: Was ein Skandal
Deutschland diskutiert seit Jahrzehnten über gerechtes Erben – doch die
Kluft zwischen Arm und Reich wächst weiter. Die Wirtschaftsweisen halten
nun der Politik den Spiegel vor: Wer Millionen vererbt, zahlt oft
weniger als der Durchschnittsverdiener. Die Erbschaftsteuer ist zu einem
Symbol der sozialen Schieflage geworden. Doch Mut zur Reform fehlt –
aus Angst vor Schlagzeilen, Spenden und Wählerverlusten. Dabei ist klar:
Ohne gerechte Regeln beim Vererben bleibt Leistung eine Illusion und
Besitz die Eintrittskarte ins Privileg. Karlsruhe könnte die Politik nun
zwingen, was sie selbst nicht wagt – endlich Gerechtigkeit zu wagen.
Mini-Infobox:
– Prognose: Wirtschaftsweise fordern Erbschaftsteuerreform
– Kernvorschlag: Einführung eines Lebensfreibetrags
– Ziel: Gerechtere Besteuerung großer Vermögen
– Gegner: Veronika Grimm warnt vor Wirtschaftseinbruch
– Kontext: Verfassungsgericht prüft Privilegien für Firmenerben
OZD-Analyse
Hintergrund der Reformforderung
a) Deutschland zählt laut OECD zu den Ländern mit der höchsten Vermögensungleichheit in Europa.
b) Erbschaften und Schenkungen verstärken diesen Trend massiv.
c) Die aktuellen Steuerregeln begünstigen Firmenerben und große Vermögen unverhältnismäßig stark.
Ökonomische und politische Spannungen
– Die SPD sieht in der Reform einen Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit.
– Die Union warnt vor „Kapitalvernichtung“ in Familienunternehmen.
– Innerhalb des Sachverständigenrats ist die Spaltung zwischen sozialer
Ausgleichspolitik und wachstumsorientiertem Kurs offensichtlich.
Mögliche Folgen einer Reform
– Einführung eines Lebensfreibetrags würde steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten stark einschränken.
– Kurzfristig könnten mehr Steuereinnahmen erzielt, langfristig aber Investitionen gehemmt werden.
– Ein Urteil aus Karlsruhe könnte die politische Dynamik beschleunigen und das Thema zur nächsten Koalitionsfrage machen.
Was sind die Wirtschaftsweisen?
Die Wirtschaftsweisen – offiziell der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
– beraten seit 1963 die Bundesregierung. Das fünfköpfige Gremium
erstellt jährlich ein Gutachten mit Empfehlungen zu Wirtschaft, Finanzen
und Sozialpolitik.
Was ist die Erbschaftsteuer?
Die Erbschaftsteuer
wird in Deutschland auf den Erwerb von Vermögen durch Erbschaft oder
Schenkung erhoben. Höhe und Freibeträge hängen vom Verwandtschaftsgrad
ab. Betriebsvermögen wird bislang aus Angst vor Arbeitsplatzverlusten
besonders begünstigt – ein zentraler Streitpunkt der aktuellen Debatte.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.
OZD-Extras
Fakt am Rande: Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) werden in Deutschland jedes Jahr rund 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt – der Großteil davon an die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung.