ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen steigen stark – Studie zeigt deutliche Dynamik
Eine neue Auswertung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (ZI), veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt International, dokumentiert einen drastischen Anstieg von ADHS-Neudiagnosen bei Erwachsenen in Deutschland. Zwischen 2015 und 2024 erhöhte sich die Inzidenz um 199 Prozent – eine Verdreifachung innerhalb eines Jahrzehnts.
Massiver Anstieg: Von 8,6 auf 25,7 Betroffene pro 10.000 Versicherte
2015 erhielten noch 8,6 von 10.000 gesetzlich Versicherten erstmals eine ADHS-Diagnose. 2024 waren es bereits 25,7 je 10.000 – ein durchschnittlicher jährlicher Zuwachs von 14 Prozent, allerdings mit deutlicher Beschleunigung in den letzten vier Jahren.
Der Trend ist klar: Der Anstieg ist nicht zufällig, sondern strukturell.
Geschlechterunterschiede schmelzen – besonders starke Zunahme bei Frauen
Männer weisen weiterhin eine leicht höhere Inzidenz auf (26,9 pro 10.000), Frauen liegen jedoch mit 24,8 kaum darunter. Auffällig: Der stärkste Zuwachs entfiel zuletzt auf Frauen – vor allem junge Erwachsene.
Dies deutet auf eine Kombination aus gesellschaftlicher Sensibilisierung, veränderter Diagnostik und Pandemieeffekten hin, die insbesondere Frauen sichtbar gemacht hat, die zuvor häufig übersehen wurden.
Späte Diagnosen statt neue Erkrankungen
Die Autoren betonen: Die meisten ADHS-Erkrankungen beginnen im Kindesalter. Viele Diagnosen im Erwachsenenalter sind verspätete Erkennungen, keine neu auftretenden Fälle.
Drei Faktoren hätten die Dynamik verstärkt:
- Bessere Aufklärung und Enttabuisierung
- Höhere Aufmerksamkeit für psychische Belastungen nach der Pandemie
- Mehr Diagnostikmöglichkeiten im Erwachsenenbereich
ADHS: Häufigste psychische Störung im Kindesalter – und unterschätzt im Erwachsenenleben
ADHS bzw. ADS gilt als verbreitetste psychische Entwicklungsstörung bei Kindern. Typische Merkmale sind geringe Ausdauer, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität oder Impulsivität.
Im Erwachsenenalter äußert sich ADHS oft subtiler: Konzentrationsprobleme, emotionale Instabilität, Desorganisation, berufliche Schwierigkeiten.
Genetische Faktoren gelten als zentral, Umwelteinflüsse spielen ebenfalls eine Rolle.
Datenbasis: Krankenkassenübergreifende Analyse 2013–2024
Erstmals liegen bundesweite Daten zur ADHS-Inzidenz bei Erwachsenen vor. Die Analyse basiert auf Abrechnungsdaten aller gesetzlich Versicherten ab 18 Jahren – und schließt damit eine bislang bestehende Forschungslücke.
Kommentar
Der Anstieg der ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen wird oft reflexhaft als „Modeerscheinung“ abgetan. Die Studie zeichnet jedoch ein anderes Bild: Sie belegt strukturelle Unterdiagnostik der vergangenen Jahrzehnte. Die rasant wachsenden Zahlen zeigen weniger ein neues Krankheitsphänomen, sondern vor allem, wie viele Betroffene zuvor unbehandelt geblieben sind.
Besorgniserregend ist weniger der Anstieg selbst als die Frage, wie viele Menschen wohl noch immer ohne Diagnose durchs System fallen. Gleichzeitig bleibt offen, ob die Versorgungskapazitäten mit dem steigenden Bedarf Schritt halten können.
Deutschland steht damit vor einer Grundsatzfrage: Wie gut kann eine Gesundheitspolitik, die traditionell stark kinderzentriert ist, erwachsene Betroffene integrieren? Die neue Datenlage legt nahe, dass ein erhebliches Modernisierungsdefizit besteht.
OZD
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Bild: AFP