Nach Auffassung von RSF verletzt die Überwachung grundlegende Rechte gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8), das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (Artikel 10) sowie das Recht auf wirksame Beschwerde (Artikel 13).
„Journalistinnen und Reporter müssen sich auf die Vertraulichkeit ihrer Kommunikation verlassen können. Der Einsatz von Staatstrojanern durch den Geheimdienst kann diese Vertraulichkeit untergraben - und so Grundrechte von Journalisten und damit die Pressefreiheit verletzen. Wir sind durch alle rechtlichen Instanzen in Deutschland gegangen, um sicherzustellen, dass diese Grundrechte geschützt werden, doch nun hat auch das Bundesverfassungsgericht unsere Beschwerde ohne Begründung abgelehnt. Daher wenden wir uns jetzt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte", sagt Anja Osterhaus, Geschäftsführerin von Reporter ohne Grenzen Deutschland.
„Der Geheimdienst kann Journalisten heimlich per Trojaner überwachen, ohne dass der Betroffene hiervon jemals erfährt. Hiergegen gibt es in Deutschland keinen Rechtsschutz, wenn vom Betroffenen auch weiterhin Nachweise für eine Überwachung verlangt werden. Dies steht einem demokratischen Rechtsstaat schlecht zu Gesicht und verstößt gegen die Menschenrechte“, sagt Rechtsanwalt Niko Härting, der das Verfahren für RSF führt.
Schwerwiegender Eingriff in die Pressefreiheit – und in die Arbeit von RSF
RSF unterstützt weltweit Journalistinnen und Journalisten, die in Kriegs- und Konfliktgebieten arbeiten oder investigativ zu Menschenrechtsverletzungen, Korruption oder organisierter Kriminalität recherchieren. Gerade diese Recherchen fallen auch in das Aufklärungsinteresse von Geheimdiensten – und bringen Medienschaffende in Gefahr, ins Visier des BND zu geraten und durch Staatstrojaner ausgespäht zu werden.
Ein Beispielszenario: Kommuniziert eine Journalistin mit einem ausländischen Geheimdienstler, dem Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen werden, ist der BND an Erkenntnissen über diesen Geheimdienstler interessiert, kann den Zugang zu diesem Kontakt aber eventuell nicht direkt herstellen. Stattdessen kann die Journalistin selbst Ziel einer Überwachungsmaßnahme werden: Ein Staatstrojaner auf ihrem Smartphone ermöglicht den Zugriff auf sämtliche Kommunikation – auch auf vertrauliche Gespräche mit RSF. Die Journalistin ist damit unmittelbar Betroffene, obwohl sie selbst keiner Straftat verdächtigt wird. Eigentlich sieht das Gesetz vor, dass Betroffene im Nachhinein über eine solche Maßnahme informiert werden, in der Praxis geschieht dies jedoch nur äußerst selten.
Über Kontakte zu Journalistinnen und Journalisten, deren Handys durch Spähsoftware ausgelesen werden, können auch Mitarbeitende von RSF indirekt betroffen sein, da auch ihre Kommunikation mit diesen Journalist*innen durchleuchtet wird. In einem solchen Fall müsste der BND RSF-Mitarbeitende nach geltendem Recht nicht einmal nachträglich über das Mitlesen ihrer Kommunikation mit den Medienschaffenden informieren.
Es ist auch möglich, dass Mitarbeitende von RSF selbst in den Fokus geraten. Werden ihre Handys durch Staatstrojaner überwacht, besteht die Gefahr, dass ihre gesamte berufliche Kommunikation – inklusive vertraulicher Gespräche mit Informantinnen und Whistleblowern – ausgelesen wird.
Schon die reale Möglichkeit einer solchen Überwachung entfaltet einen „chilling effect“: Hilfesuchende überlegen sich zweimal, ob sie sensible Informationen weitergeben – aus Angst, dass ihre Gespräche mit NGOs wie RSF heimlich mitgelesen werden. Damit droht das Vertrauen in dringend notwendige Schutz- und Unterstützungsangebote untergraben zu werden.
Fehlender Rechtsschutz und mangelnde Kontrolle
Besonders problematisch: Überwachungsmaßnahmen sind geheim, Betroffene werden im Regelfall nicht informiert. Damit haben sie praktisch keine Möglichkeit, vor Gericht überprüfen zu lassen, ob eine solche Maßnahme ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihre Grundrechte war.
Trotzdem verlangen deutsche Gerichte einen Nachweis, dass man selbst Ziel einer geheimen Überwachung war. Das ist aber faktisch unmöglich, weil die Maßnahmen im Verborgenen stattfinden. Wer dagegen klagen will, müsste sich selbst bezichtigen – also einräumen, in einer Konstellation tätig zu sein, die den Einsatz eines Staatstrojaners rechtfertigen könnte. Genau diese unzumutbar hohen Hürden in Deutschland machen wir mit unserer Beschwerde in Straßburg geltend: Sie verhindern effektiven Rechtsschutz.
Hinzu kommt, dass die bestehenden Kontrollmechanismen – etwa durch die G10-Kommission oder das Parlamentarische Kontrollgremium – weder transparent noch ausreichend wirksam sind.
Der Ritt durch die Instanzen
Bereits im Januar 2023 hatte das Bundesverwaltungsgericht eine Klage von RSF als unzulässig abgewiesen. Die dagegen im Frühjahr 2023 eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an. Mit der nun eingereichten Beschwerde will RSF erreichen, dass der EGMR feststellt: Der Einsatz von Staatstrojanern verletzt die Menschenrechte von Journalistinnen und Reportern in unzulässiger Weise, zudem stellt das deutsche Recht zu hohe Anforderungen an Betroffene, die sich gegen geheimdienstliche Überwachung wehren wollen.
Die Beschwerde knüpft an die kontinuierlichen Bemühungen von RSF an, geheimdienstliche Überwachungsbefugnisse an menschenrechtlichen Vorgaben zu messen. Reporter ohne Grenzen hat in einem weiteren Fall Beschwerde vor dem EGMR gegen die Massenüberwachung des BND eingereicht. Die Entscheidung steht noch aus.
Journalistinnen und Reporter, die fürchten, überwacht zu werden, können sich an das Digital Security Lab von Reporter ohne Grenzen (RSF) wenden. Die Mitarbeitenden prüfen die Endgeräte auf Spuren bekannter Spähtechnologie.
Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Deutschland auf Platz 11 von 180.
Reporter ohne Grenzen e. V. c/o Publix
Alle Angaben ohne Gewähr.