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Samhain – Die Nacht der Heimkehr

Samhain, geschrieben von Cara Viola

Kapitel 1 – Vor der Tür

Lächelnd sitzt er vor seinem Haus. In seinem Mundwinkel ruht die Pfeife, längst erloschen. Seine Frau mochte den Rauch nie – er würde in die Gardinen und Kleider kriechen, im Haus hängen wie ein störrischer Geist. Also hat er es sich nach und nach abgewöhnt. Erst rauchte er nur noch draußen, dann nuckelte er bloß an der kalten Pfeife. Das Gefühl im Mund beruhigte ihn – und so blieb sie sein stiller Begleiter. Damit war auch seine Schönste zufrieden, und die Zeit der Entwöhnung verging ohne Klage.

Seine Schönste …
Nie ein böses, nie ein lautes Wort. Immer sanft, immer zart – wie die Morgenbrise über dem Meer. Ihr Duft, nach Veilchenblüten und Wärme, schwebt noch immer durch das Haus. Er hat nie gewagt, ihre Kleider zu waschen; er könnte die letzte Spur von ihr verlieren. Diese Oase, in der sie noch lebt, macht ihn glücklich.

Tiere liebte sie über alles. Oft brachte sie ein verletztes oder zu schwaches Wesen mit vom Markt. Mit Geduld pflegte sie es gesund und entließ es in die Freiheit. Sie konnte kein Leid ertragen, wollte allen das Leben leichter machen – auch ihm. Sie wusste stets, wann er Kaffee wollte, wann ein Stück Gebäck; dann kam sie, lächelnd, mit einem Kuss auf die Stirn, als sei es das Natürlichste der Welt.

Bei dem Gedanken an sie legt er den Kopf in den Nacken, schnuppert in den Wind, der sanft um das Haus streicht. Für sie hatte er dieses Häuschen auf den Kalkfelsen gekauft – damals war es eine Ruine, aber ihr Lächeln allein gab ihm die Kraft, daraus einen Hafen der Ruhe zu schaffen.

Die Kinder sind längst fort, ins Landesinnere gezogen, fort von der schroffen Küste, von Wind und Wellen, fort von den alten Menschen mit ihren noch älteren Fischerkaten. Sie baten ihn, mitzukommen, weg von den Erinnerungen. Doch wie sollte er das? Kaum eine Erinnerung hier ist traurig. Und jene wenigen, die es sind, gehören ebenso zu ihr wie die glücklichen.

Er bleibt. Bis sein letzter Atemzug verhallt.
In diesem Haus, das nach ihr riecht – nach Liebe, Geborgenheit, nach Leben.
Wie könnte er ihr Grab verlassen, dort gleich neben seinem Schlafzimmerfenster, unter der alten Eiche, die sie so geliebt hat? Mit Absicht hat er sie dort gebettet, so nah, dass es ihm vorkommt, als lägen sie noch immer Seite an Seite.

Kapitel 2 – Die Rüben und der Hund

Tief seufzt er, die Lungen füllen sich mit kühler, klarer Luft. Heute riecht der Wind frisch, nicht schwer und salzig wie sonst, wenn er vom Meer herkommt. Es ist ein guter Tag, um die Gedanken zu ordnen. Noch gibt es zu tun, bevor die Nacht hereinbricht – die Nacht, auf die er jedes Jahr aufs Neue wartet.

Er sitzt lange auf seiner Bank und schnitzt.
Seine Frau hätte geschimpft, dass er sich erkältet, hätte ihn ins Haus gescheucht oder in Decken gewickelt, bis nur noch die Nase hervorlugt. Wieder lächelt er bei der Vorstellung.

Seine Finger zittern, die Gelenke schmerzen, und doch – am Ende ist er zufrieden mit seiner Arbeit. Drei große Rüben hat er bearbeitet, schiefe Fratzen glotzen ihn an. Es fehlen nur noch die Kerzen, dann sind sie bereit für das Fest der Seelen. Samhain. Die Nacht, in der der Schleier zwischen den Welten dünn wird.

Unter der Bank regt sich etwas.
Die breite, graue Schnauze seines alten Hundes schiebt sich hervor und legt sich auf seine Füße. Auch er war einst ein Findling, den seine Liebste mit nach Hause brachte. Ein misshandeltes Tier, alt und misstrauisch – bis ihre sanfte Hand ihn heilte. Nun ist er beinahe so alt wie die Zeit selbst. Blind, halb taub, zahnlos – doch treu und genügsam. Ein stilles, atmendes Stück Vergangenheit.

Der Alte krault ihn gedankenverloren, spürt das raue Fell unter den Fingerspitzen. Die Rübenspäne stören den Hund nicht, er schiebt nur die feuchte Schnauze tiefer in die Hand seines Herrn. Wieder muss der Mann lächeln, steht schließlich auf – jeder Wirbel knackt, als müsse er sich an die Bewegung erinnern.

Drei Rüben. Drei Lichter für die Seelen. Genau richtig.
Doch noch ist der Tag nicht zu Ende.
Er sieht nach den Bienen, die seine Frau einst wollte – ihr „Bienenvolk“, wie sie liebevoll sagte. Er hatte nie etwas vom Fischen gehalten, und die Arbeit an den Stöcken gefiel ihm. Die kleinen, braun-gelben Wesen summen fleißig, wie sie selbst es immer war. Er achtet sorgfältig auf sie, pflegt sie, als wären sie ihr Vermächtnis.

Kapitel 3 – Die Nacht der Heimkehr

Als die Dämmerung herabsinkt, steht der Eintopf auf dem Herd – aus Rüben, nach ihrem alten Rezept. Draußen, am Grab unter der Eiche, flackern die Kerzen in den ausgehöhlten Rüben. Ihre grinsenden Gesichter werfen tanzende Schatten über den moosigen Stein. Daneben liegen Honigkuchen, gebacken aus dem eigenen Honig, und ein kleines Glas Met. Nur eines – mehr darf er nicht, sonst, das weiß er, bekäme er wieder eine Rüge von ihr.

Er schmunzelt. Heute will er brav sein.
Sie wird sich freuen, wenn sie ihn sieht – und den Hund, der noch immer bei ihm ist. Manchmal, wenn der Alte nachts das gleichmäßige Schnarchen seines Gefährten hört, legt sich Ruhe auf sein Herz. Noch schläft er. Noch bleibt ihm Gesellschaft.

Später wäscht sich der Alte gründlich, rasiert sich, zieht sein bestes Hemd an.
Man darf der Liebsten nicht mit Bartstoppeln entgegentreten. Sie soll keinen Igel küssen müssen.

Dann setzt er sich und wartet.
Die Zeit dehnt sich, zäh wie Honig.
Jede Minute rinnt so langsam, dass sie sich wie Stunden anfühlt.
Der Hund hebt träge den Kopf, als wolle er fragen, warum sein Herr so unruhig ist.

Dann – endlich.

Ein Lachen.
So hell und klar wie das Klingen von Silberglöckchen.
Das Rascheln nackter Füße im Laub hinter dem Haus. Ein kurzer Gedanke huscht durch seinen Kopf: Tragen Tote wohl Socken? Es wäre töricht, aber der Gedanke an ihre bloßen, zarten Füßchen im kalten Oktoberwind lässt ihn schaudern.

Er steht auf, sein Herz schlägt schneller.
An der Tür wartet sie – lächelnd, wie er sie in Erinnerung hat. Kichernd wie ein junges Mädchen, und doch in der reifen Schönheit jener Frau, die er einst verloren hat. Sie breitet die Arme aus, und er geht auf sie zu.

Kapitel 4 – Der Tanz der Herzen

Er weiß nicht, wie es möglich ist, doch in dieser Nacht gilt keine Regel. Samhain folgt seinen eigenen Gesetzen.
Er zieht sie in seine Arme, atmet ihren Veilchenduft ein, spürt ihre Wärme auf den Lippen. Er kann sie riechen, schmecken, fühlen – und das ist alles, was zählt.

Einmal im Jahr gehört sie ihm zurück.
Nicht aus Sehnsucht nach Lust, sondern nach Nähe. Nach der Gewissheit, dass Liebe stärker ist als der Tod.

Wie von selbst finden sie in den alten Rhythmus.
Eng umschlungen bewegen sie sich, ein Tanz nur für zwei, geführt von Erinnerungen und Herzschlägen. Keine Musik erklingt, und doch hören sie dieselbe Melodie.

Unter dem Mondlicht tanzen sie auf dem Platz vor dem Haus.
Der Hund liegt auf der Bank, halb schlafend, halb wach, und hebt den Kopf, um das leise Schwingen ihrer Körper zu verfolgen. Für ihn sind sie nur Schatten, doch selbst er spürt, dass hier etwas Heiliges geschieht.

Zwei Seelen im Einklang, zwei Herzen, die nie aufgehört haben, einander zu gehören.

Wenn der Morgen kommt, muss sie gehen.
Aber solange sie tanzen, solange sie lacht, ist er jung, frei und ganz. Alle Schmerzen, alle Schwächen vergehen im Rhythmus dieses Tanzes.

Eines Tages, wenn seine Zeit gekommen ist, wird er ihr folgen.
Dann werden sie sich nie mehr trennen müssen.
Bis dahin aber – so sagen die Leute im Dorf –
spukt es in dem kleinen Haus auf dem Felsen.

Und hinter dem Haus, wo der Wind die Gräser wiegt,
summen die Bienen.

Cara Viola 


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