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Ein Jahr nach Assads Fall: Hoffnung Angst und ein Präsident unter Druck

Ein Jahr nach dem Sturz von Baschar al-Assad ruft Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa zum gemeinsamen Wiederaufbau auf. Doch hinter den Bildern des Jubels brodeln alte Konflikte, ungelöste Gewalt und tiefe gesellschaftliche Risse.

Ein Jahr nach dem dramatischen Sturz des syrischen Langzeitmachthabers Baschar al-Assad hat Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa die Bevölkerung zu einem gemeinsamen Wiederaufbau des Landes aufgerufen. In Damaskus appellierte der Anführer der islamistischen HTS-Miliz am Montag an alle Syrerinnen und Syrer, ihre Kräfte zu vereinen, „um ein starkes Syrien aufzubauen, seine Stabilität zu sichern, seine Souveränität zu wahren und eine Zukunft zu gestalten, die den Opfern seines Volkes gerecht wird“.

Al-Scharaa war nach der Eroberung der Hauptstadt durch die HTS-Miliz und verbündete Gruppen am 8. Dezember 2024 an die Spitze der Übergangsregierung gerückt, nachdem Assad nach Russland geflohen war. Seit seinem Amtsantritt bemüht er sich um ein moderateres Image und internationale Anerkennung. Erste Erfolge erzielte er mit der Aufhebung bestimmter Sanktionen – doch der Weg aus der Isolation bleibt lang.

Syrien steht weiterhin vor immensen Herausforderungen: Große Teile des Landes liegen nach fast 14 Jahren Krieg in Trümmern, die Infrastruktur ist schwer beschädigt, und viele Regionen sind tief gespalten. Immer wieder wird der Regierung vorgeworfen, Minderheiten wie Alawiten, Drusen oder Kurden nicht ausreichend zu schützen. Die Sicherheitslage ist trotz Waffenruhen fragil.

Die Wunden des vergangenen Jahres sind zudem frisch: Im März wurden in alawitischen Gebieten im Westen Syriens mehr als 1700 Menschen bei Massakern getötet. Im Juli kam es in Suwaida zu schweren Kämpfen zwischen Drusen und sunnitischen Beduinen, bei denen über tausend Menschen starben. Diese Gewalt spiegelt die tiefen Bruchlinien einer Gesellschaft wider, die kaum zur Ruhe kommt.

Trotz dieser Realität herrschte am Montag in Damaskus Feierstimmung. Tausende strömten nach dem Festtagsgebet aus den Moscheen der Altstadt auf die Straßen. Al-Scharaa nahm am Morgen am Gebet in der berühmten Umajjaden-Moschee teil und inspizierte anschließend eine Militärparade. Später wollte er noch eine Ansprache halten, die weitere Weichen für den politischen Kurs des Landes setzen dürfte.
OZD


OZD-Kommentar – „Zwischen Trümmern und Triumph: Syriens Neuanfang steht auf dünnem Fundament“

Ein Jahr nach Assads Fall verkauft die Regierung in Damaskus den Menschen ein Bild des Aufbruchs – doch die Wahrheit liegt in den Ruinen, die niemand übersehen kann. Ahmed al-Scharaa präsentiert sich als Präsident eines neuen Syriens, doch seine Macht basiert auf einer Miliz, nicht auf gesellschaftlichem Konsens. Während in Damaskus Paraden marschieren, kämpfen Minderheiten weiterhin um ihr Überleben, und ganze Regionen liegen in Schutt und Asche.

Die großen Worte vom Wiederaufbau klingen hohl, solange Massaker, ethnische Spannungen und bewaffnete Gruppen den Alltag prägen. Der internationale Applaus für gelockerte Sanktionen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat tief gespalten bleibt – und dass al-Scharaa Vertrauen nicht verordnen kann.

Wenn dieser Neuanfang mehr sein soll als eine Inszenierung, braucht Syrien mehr als Paraden: echte Sicherheit, Schutz für alle Bevölkerungsgruppen und eine Regierung, die mehr ist als ein Zweckbündnis aus Milizen. Bis dahin bleibt die Zukunft des Landes so fragil wie seine zerstörten Städte.


Mini-Infobox

Dezember 2024: Sturz von Baschar al-Assad

Über 1700 Tote in alawitischen Gebieten im März 2025

Mehr als 1000 Tote bei Kämpfen in Suwaida im Juli

Große Teile Syriens weiterhin zerstört

Übergangsregierung ringt um internationale Anerkennung


OZD-Analyse

1. Die politische Lage nach Assads Sturz
a) Machtbasis al-Scharaas bleibt militärisch, nicht demokratisch –
b) Internationale Anerkennung ist brüchig und an Reformen geknüpft –
c) Regionale Einflussakteure – Türkei, Iran, Russland – spielen weiter eine zentrale Rolle –

2. Die gesellschaftlichen Bruchlinien
a) Gewalt gegen Minderheiten untergräbt jede Legitimität der Übergangsregierung –
b) Menschliche Traumata aus 14 Jahren Krieg bleiben ungelöst –
c) Massive Binnenflucht erschwert jeden Wiederaufbau –

3. Die ökonomischen Herausforderungen
a) Infrastruktur ist großflächig zerstört –
b) Investitionen hängen von internationaler Stabilität ab –
c) Staatliche Institutionen sind geschwächt und teils dysfunktional –



Erklärungen Wer ist Ahmed al-Scharaa?

Ahmed al-Scharaa ist der Anführer der islamistischen HTS-Miliz und seit Januar 2025 Übergangspräsident Syriens. Er übernahm die Macht nach der Eroberung von Damaskus und bemüht sich seither um ein gemäßigteres Image und internationale Anerkennung.

Was ist die HTS-Miliz?

Die Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ist eine islamistische Miliz, die aus früheren Al-Kaida-Strukturen hervorgegangen ist. Sie kontrollierte jahrelang Teile Nordsyriens. Ihre Machtübernahme in Damaskus im Dezember 2024 markierte eine der drastischsten politischen Verschiebungen seit Beginn des Syrienkriegs.



OZD-Extras

Historische Fußnote:
Die Umajjaden-Moschee, in der al-Scharaa betete, gehört zu den ältesten islamischen Heiligtümern der Welt – und ist Symbol einer Vergangenheit, an die das heutige Syrien kaum anknüpfen kann.