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Die eiskalte Schönheit - Ein Kurz-Krimi von Cara Viola

Eine Leiche wie diese hat Mercedes noch nie gesehen – und das will etwas heißen für eine Gerichtsmedizinerin.

Sie hatte schon mehr tote Körper vor sich liegen, als es möglich sein sollte. Gestorben wird immer, und Mercedes ist dafür zuständig, dass die Polizisten und Polizistinnen wissen, wonach sie in einem Fall zu suchen haben. Mercedes selbst sieht grundsätzlich nur das blutige oder weniger blutige Ende, das Menschen erwarten kann, wenn sie an den falschen Fäden des Schicksals ziehen oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Bei den meisten, die auf ihrem Seziertisch landen, hat jemand nachgeholfen – und nun bleiben die großen Fragen: Warum und wie? Genau das ist es, was den Job als Gerichtsmedizinerin ausmacht, den Mercedes zwar nie wollte, dem sie nun aber gewissenhaft nachgeht. Ärztin wollte sie werden, den Menschen helfen, das Helfersyndrom füttern und all solche hochtrabenden Wünsche. Naja, im gewissen Sinne hilft sie den Menschen immer noch – nur ihren Patienten nicht mehr, sondern denen, die zurückbleiben, bei der Wahrheitsfindung und denen, die alle Rätsel aufdecken sollen.

Ihr heutiges Opfer jagt ihr eine Gänsehaut über den Rücken, und die hatte sich Mercedes in all den Jahren dieses Berufs eigentlich abtrainiert. Aber selbst sie kann einen Schauer nicht unterdrücken, und das kommt nicht nur von der ewigen Kälte, die in ihrem kleinen Reich herrscht, damit die Leichen originalgetreu bleiben und sich nicht allzu sehr durch Verwesung verändern, während sie untersucht werden. Deswegen kommt Mercedes auch niemals ohne ihren geliebten regenbogenfarbenen Schal zur Arbeit. Sie ist schon seit ihrer Kindheit anfällig für Erkältungen, und ihr Beruf macht es ihrem Immunsystem nicht gerade leichter. Zwar versteckt sie den Schal für die Obduktionen immer unter einem Einmalkittel, damit sie ihre Ergebnisse nicht verunreinigt und nicht selbst noch unter Mordverdacht gerät, aber ohne ihn macht sie keinen Schritt vor die Tür.

Die heutige Leiche vor ihr ist eine Frau – soweit nichts Ungewöhnliches. Das Sonderbare ist, dass diese Frau aussieht, als wäre sie erfroren. Auch das wäre an sich nicht sonderlich aufregend, aber bei ihr ist das Problem das Wie. Ihre Haut ist so blau wie Vergissmeinnicht, winzige Eiskristalle liegen überall auf ihrer Haut, ihre Lippen sind so königsblau angelaufen, wie ein menschlicher Körper es eigentlich gar nicht sein kann, und sie wirkt so dünn und zerbrechlich wie eine Schneeflocke oder ein Kunstwerk aus Glas. Fast meint man, ihre inneren Organe durch die dünne Haut sehen zu können, ihre Adern zeichnen sich überdeutlich ab. Und dann ist da dieses Gesicht… Sie besitzt eine ätherische Schönheit, wie sie Mercedes noch nie zu Gesicht bekommen hat. Klar, es gibt viele sehr schöne Frauen und viele, die auch ihr Bett geteilt haben – Mercedes war noch nie eine Kostverächterin, und die Schönheit eines Menschen sollte ihrer Meinung nach nicht auf ein Geschlecht beschränkt sein –, aber diese Leiche hat etwas, das sie beim besten Willen nicht benennen kann. Sie ist einfach zu schön, zu zerbrechlich. Mercedes muss zugeben, dass sie ihren Blick kaum abwenden kann. Immer wieder erwischt sie sich dabei, wie sie sich erneut über den Seziertisch beugt und noch einmal genauer hinsieht. Verdammt, so unprofessionell! Das ist ihr noch nie passiert. Sie nimmt ihren Beruf sehr ernst und tut immer ihr Bestes, um zu einem Ergebnis zu kommen. Das ist sie gar nicht von sich selbst gewohnt, also ehrlich.

Ein wenig frustriert von sich selbst dreht sie sich demonstrativ von diesem verführerischen Anblick ab, der da nackt und hilflos hinter ihr liegt, und beginnt, ihre Werkzeuge und Instrumente für die Obduktion auf einem kleinen Tablett zusammenzustellen. Da hört sie etwas, das es in ihrem Berufsfeld nicht geben sollte und das keiner hören will: eine Bewegung und das vertraute Quietschen der Schrauben an ihrem Seziertisch. Nein, das kann nicht sein… Sie stoppt in ihrer Bewegung, die Instrumente fallen ihr in das Tablett, das sie gerade in den Händen hält. Langsam, ganz langsam dreht sie sich zu ihrem Tisch um – und erstarrt. Nun fühlt sie sich selbst wie erfroren, Eis scheint durch ihre Adern zu fließen, und ihr Atem geht stockend und unregelmäßig. Was sie sieht, ergibt keinen Sinn, und die Wissenschaftlerin in ihr schreit laut auf. Ihre Leiche scheint gar nicht so leichig zu sein; eindeutig bewegt sie sich und richtet sich in diesem Moment auf.

Ihr nackter Körper sitzt nun auf der Kante des Tisches, die Beine baumeln spielerisch, und hinter ihr erstrecken sich feine, durchscheinende Flügel wie die eines Insekts. Mercedes hat den Körper von oben nach unten bei der äußeren Leichenschau untersucht, alles aufgeschrieben und alles notiert. Gründlich, wie sie in ihrem Job ist, hat sie ihre Ergebnisse mehrfach geprüft – und es war nicht einmal ein Ansatz von Flügeln zu sehen gewesen. Überhaupt: Flügel? Hat sie zu viel Äther geschnüffelt? Was ist hier los? Tausend Fragen gehen ihr durch den Kopf, aber nichts will über ihre Lippen kommen. Da erhebt sich dieses wunderschöne, durchscheinende Etwas kichernd vom Seziertisch und schwebt einige Zentimeter über dem Boden auf Mercedes zu.

„Danke, so ist es doch viel angenehmer. Mir war so schrecklich heiß da draußen, aber hier unten bin ich wieder abgekühlt. Wie kann ich das nur wieder gut machen?“ Spielerisch legt sie den Kopf schief und lächelt das verschmitzte Lächeln eines nordischen Gottes. Stimmt – die „Leiche“ war in einer Nebengasse gefunden worden, und es ist einer der heißesten Tage des Jahres. Ihr war es also zu heiß? Ist sie deswegen ohnmächtig geworden? Und was ist sie überhaupt? Eindeutig ist sie kein Mensch; sie schwebt, und diese Flügel sind mehr als fragwürdig, dazu haben sich die Farbe ihrer Lippen und ihrer Haut kein Stück verändert. Ein Mensch könnte mit einer solchen Unterkühlung nicht lange überleben, das weiß Mercedes nur zu gut, da sie schon einige Frostleichen in ihrem Keller liegen hatte.

Da fällt ihr auch auf, dass die winzigen Eiskristalle, die diesen schönen Körper von oben nach unten bedecken, nie schmelzen – sie bleiben einfach immer bestehen. Das ist menschlich gesehen unmöglich. Noch während Mercedes vor sich hin grübelt, kommt das kühle Etwas ganz nah und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen, nur um dann kichernd in einem nebelgleichen Hauch zu verschwinden, als wäre sie nie da gewesen. Mercedes bleibt verwundert zurück und fährt sich nachdenklich mit den Fingern über die Lippen; so kühl war ihr Mund, und was genau sie war, weiß sie immer noch nicht. Ihre Gedanken rasen – und dann muss sie sich auch noch überlegen, was sie mit den Papieren einer Toten anfangen soll, die sie niemals ihrem Arbeitgeber vorzeigen kann.

Text Cara Viola, Bild OZD