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Sind alle Fluchthelfer*innen kriminell?

Juristin Julia Trinh fordert eine Novelle des Schleusertatbestands

Das Phänomen ist bekannt: Menschen, die aus Afghanistan, dem Iran oder Syrien nach Europa kommen, sind meistens auf die Hilfe von Schleusern angewiesen. Erfahrungsgemäß nutzen die Täter dafür alle denkbaren Methoden, um die Flüchtlinge zu verstecken und ins Zielland zu bringen – doppelte Wände oder Böden in Lkw, Verstecke in Containern oder Zügen, das Überqueren von sogenannten grünen Grenzen oder „offene Schleusungen“ als Passagier in einem Flugzeug. „Die irreguläre Migration ist eine der wesentlichen globalen Herausforderungen. Vor dem Hintergrund sich verknappender Ressourcen sind Migrationspolitik und -steuerung von herausragender Bedeutung“, heißt es in einem Lagebericht des Bundesinnenministeriums.

Schleusern drohen hohe Haftstrafen, denn Fluchthilfe gilt in Deutschland als eine Form der organisierten Kriminalität. Aber verfolgen die Schleuser immer finanzielle und kriminelle Interessen oder wollen sie einfach nur helfen? „Die deutsche Gesetzgebung unterscheidet nicht zwischen kriminellen Schleusern und privaten Fluchthelfern“, betont Dr. Julia Trinh, die in ihrer Dissertation „Die Strafbarkeit der Fluchthilfe“ die aktuell geltende Gesetzgebung unter die Lupe genommen hat. Die Rechtswissenschaftlerin hat deswegen einen Vorschlag für eine Gesetzesreform erarbeitet, die eine Unterscheidung zwischen kriminellen Schleusern und humanitären Fluchthelfern vorsieht.

Sind Schleusungen auch strafbar, wenn die Täter offenkundig mit dem Motiv der solidarischen Hilfe handeln? Ja, entschied der Bundesgerichtshof im Jahr 2015. Zwei Syrer, die im Dezember 2013 vom Landgericht Essen wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern zu Freiheitsstrafen von jeweils drei Jahren verurteilt worden waren, wollten die Urteile überprüfen lassen – und scheiterten. Das Landgericht Essen stellte fest, dass die Angeklagten 2012 gegen Zahlung mehrerer Tausend Euro syrische Flüchtlinge nach Deutschland eingeschleust hatten, die sich zunächst illegal und ohne gültige Papiere in Griechenland aufgehalten hatten. Die beiden Schleuser hatten auch dafür eine Lösung. Sie besorgten den Flüchtlingen gefälschte Ausweise und organisierten ihre Weiterreise nach Deutschland. Ohne den erwünschten Erfolg. Die deutschen Behörden wiesen die Asylanträge zurück, weil die syrischen Flüchtlinge nicht die richtigen Ausweispapiere vorlegen konnten und zudem aus einem sicheren Drittstaat eingereist waren. Die beiden Schleuser wurden wegen gewerbsmäßigen Einschleusens verurteilt.

„Objektiv betrachtet, lag eine unerlaubte Einreise vor. Die gegensätzliche Motivation von kriminellen Schleusern und humanitären Fluchthelfern spielte dabei aber keine maßgebliche Rolle“, meint Julia Trinh, die am Institut für Kriminalwissenschaften der WWU promoviert hat. Die Rechtsexpertin plädiert deswegen dafür, den sogenannten Schleuserstraftatbestand zu überarbeiten.

Seit Mitte der 1990er-Jahre wird Fluchthilfe mit Organisierter Kriminalität gleichgesetzt. Julia Trinh hält es deswegen für geboten, die entsprechenden Tatmerkmale im Paragrafen 96 des Aufenthaltsgesetzes zu ändern. Das strafbare Einschleusen von Ausländern sollte ihrer Meinung nach nur vorliegen, wenn jemand gewerbsmäßig handelt; die Hilflosigkeit oder die persönliche oder wirtschaftliche Zwangslage eines anderen Menschen ausnutzt, um an ihm eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder von ihm vornehmen zu lassen; eine andere Person in eine Lage bringt, in der ihr Lebensgefahr, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder eine schwere Gesundheitsschädigung droht.

Die möglichen Haftstrafen für Schleuser beginnen bei drei Monaten. Wer dagegen gewerbsmäßig handelt, Teil einer Bande ist, vielleicht sogar eine Waffe dabei hat, muss damit rechnen, mindestens sechs Monate und bis zu zehn Jahren hinter Gittern zu landen – unabhängig von der Motivation. Geht beispielsweise eine Seenotrettungscrew mit mehr als drei Personen auf Mission, gilt sie bereits als Bande, auch wenn sie Menschen vor dem Ertrinken rettet. Julia Trinh spricht sich deswegen für „flexible Regelbeispiele anstatt starrer Qualifikationstatbestände“ aus. Dies würde es den Gerichten erlauben, den höheren Strafrahmen bei gewinnorientierten Schleusern auszuschöpfen. Fehlt es bei der Tat jedoch an einer verwerflichen Motivation, kann das Gericht aus dem einfachen Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren verurteilen. Darüber hinaus fordert Julia Trinh, dass Personen, die Angehörige nach Deutschland einschleusen, straffrei bleiben und dass eine Strafe ausgeschlossen ist, wenn es sich bei der Einschleusung um humanitäre Unterstützung auf dem Fluchtweg handelt.

Der Vorschlag für eine Reform des Schleuserstraftatbestandes von Julia Trinh bleibt beim Gesetzesgeber zunächst ungehört. Der Bundesgerichtshof hat im Oktober 2018 lediglich ausgeführt, dass es im Hinblick auf den Paragrafen 96 des Aufenthaltsgesetzes bei Minderjährigen aufgrund des geringen Alters an einer vorsätzlichen Haupttat fehlen kann. Bei Jugendlichen sei zu begründen, weshalb das jugendliche Alter einem Vorsatz nicht entgegensteht. Bei Kindern bedarf der Vorsatz näherer und individueller Begründung, denn es sei zweifelhaft, ob den Kindern das Passieren der Staatsgrenze der Bundesrepublik bewusst ist. Deshalb wurde auf Empfehlung des Bundesgerichtshofs ein eigenständiger Tatbestand für Minderjährige geschaffen. „Ein darüber hinausgehender Reformbedarf des Paragrafen 96 des Aufenthaltsgesetzes wird vonseiten des zuständigen Bundesministeriums des Innern und für Heimat derzeit nicht geprüft“, erläutert Dr. Christina Wendt, Pressesprecherin des Bundesministeriums des Innern und für Heimat.


Autorin: Kathrin Nolte

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 12. Oktober 2022

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