Mit eindringlichen Worten und dem Appell zu einem historischen Aufbruch hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen ein neues europäisches Projekt gefordert. Angesichts globaler Spannungen und imperialer Kriege müsse Europa unabhängig werden und sein Schicksal selbst gestalten. Es sei "an der Zeit, dass Europa erneut aufsteht", sagte die 66-Jährige am Donnerstag in ihrer Dankesrede.
Das nächste große Projekt für Europa müsse von Unabhängigkeit handeln – politisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. "Was wir einst als internationale Ordnung für selbstverständlich hielten, hat sich in internationale Unordnung verwandelt", sagte von der Leyen. Die Welt werde zunehmend geprägt von Machtstreben, Konfrontation und Krieg – Europa stehe deshalb vor einer Entscheidung: nur reagieren oder selbst handeln.
Die Kommissionspräsidentin benannte vier große Aufgaben für die EU: den Ausbau der Verteidigungsfähigkeit, die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit, die "nächste historische Wiedervereinigung Europas" durch eine EU-Erweiterung um Länder wie die Ukraine, Moldau oder den Westbalkan, sowie die Stärkung der Demokratie. Noch in dieser Dekade werde sich die Weltordnung neu formen – und Europa müsse sie mitgestalten, wenn es nicht abgehängt werden wolle.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) lobte von der Leyen als "starke Vertreterin eines starken Europas". Sie gebe Europa "eine Stimme in der Welt – eine europäische Stimme", erklärte Merz in seiner Laudatio. Der Kanzler erinnerte an das berühmte Zitat von Henry Kissinger, der einst fragte, wen man in Europa anrufen solle. "Heute", sagte Merz, "würde er Ursula von der Leyen anrufen."
Merz selbst bekräftigte Deutschlands Entschlossenheit, Europa außenpolitisch und sicherheitspolitisch weiterzuentwickeln. Deutschland werde "weiter mit aller Kraft die Ukraine unterstützen – militärisch, wirtschaftlich und politisch", betonte er. Ziel sei ein Europa, das stark genug sei, um den Frieden auf dem Kontinent zu sichern – nach innen wie nach außen.
Der spanische König Felipe VI. warnte unterdessen vor populistischen Stimmen, die eine Rückabwicklung der EU forderten. "Wenn wir die Herausforderungen der Welt allein angehen wollen, sind wir verloren", sagte er unter großem Applaus im Aachener Rathaus.
Der Karlspreis, der seit 1950 Persönlichkeiten für besondere Verdienste um die europäische Einigung ehrt, wurde in den vergangenen Jahren unter anderem an Papst Franziskus, Emmanuel Macron und Wolodymyr Selenskyj verliehen. Die diesjährige Auszeichnung für von der Leyen wird als starkes politisches Signal für ein handlungsfähiges Europa gewertet – gerade in Zeiten, in denen die Einheit der EU zunehmend unter Druck steht.
OZD
OZD-Kommentar
Ursula von der Leyen hat sich in Aachen nicht nur feiern lassen – sie
hat Europa in die Pflicht genommen. Ihr Aufruf zur Unabhängigkeit war
ein Frontalangriff auf die Selbstzufriedenheit der EU-Staaten. Wer jetzt noch glaubt, Europa könne sich mit Bekenntnissen zu Frieden und Werten retten, hat nichts verstanden.
Die Welt brennt. Russland führt Krieg, China expandiert, die USA taumeln zwischen Isolationismus und Intervention – und Europa? Zögert, hadert, verwaltet. Von der Leyens Rede war die schärfste Mahnung seit Jahren: Europa muss handeln oder verschwindet von der Bühne der Geschichte.
Ihr Projekt eines unabhängigen Europas ist ambitioniert – aber es ist auch ein Befreiungsschlag gegen die ewige Abhängigkeit. Erweiterung, Aufrüstung, strategische Autonomie – das ist keine Vision, das ist Notwendigkeit. Von der Leyen stellt sich damit in die Tradition großer europäischer Aufbrüche – von Delors bis Kohl – und übertrifft ihre Vorgänger in Klarheit und Ernst.
Doch wird sie auch gehört? Die Antwort darauf entscheidet über Europas Zukunft. Und über die Rolle, die von der Leyen selbst noch spielen wird.
OZD-Analyse
1. Von der Leyens Botschaft: Ein neues Europa braucht neue Stärke
a) Zentrale Forderungen:
– Aufbau eines unabhängigen Europas
– Europa als aktiver Gestalter einer neuen Weltordnung
– Abkehr vom reaktiven zum proaktiven Handeln
b) Kontext:
– Steigende geopolitische Spannungen
– Abkehr vom Multilateralismus
– Wachsender Einfluss autoritärer Staaten
2. Die vier Aufgaben Europas laut von der Leyen
– Verteidigung: Europa muss sich selbst schützen können – unabhängig von den USA
– Wettbewerbsfähigkeit: Strategische Industriepolitik als Antwort auf chinesische Dominanz
– Erweiterung: Integration der Ukraine, Moldau, Westbalkan zur Vollendung der Einheit
– Demokratie: Kampf gegen innere Aushöhlung durch Populismus und Extremismus
3. Politische Dimension der Preisvergabe
– Von der Leyens Auszeichnung ist Signal vor den Europawahlen
– Merz’ Unterstützung stärkt ihre Autorität über Parteigrenzen hinweg
– Potenzielles Vorspiel für eine zweite Amtszeit der Kommissionspräsidentin
4. Historische Bedeutung des Karlspreises
– Seit 1950 verliehen für Verdienste um Europa
– Frühere Preisträger: Adenauer, Kohl, Merkel, Macron
– Symbol für europäische Einigung und Visionen
Was ist der Karlspreis?
Der Internationale Karlspreis zu Aachen
ehrt seit 1950 Personen oder Institutionen, die sich in herausragender
Weise um Europa und seine Einigung verdient gemacht haben. Die
Auszeichnung geht auf Karl den Großen
zurück, der Aachen zum Machtzentrum seines Reiches machte und als
Symbolfigur eines vereinten Europas gilt. Der Preis wird jährlich im
Aachener Rathaus verliehen. Preisträger waren unter anderem Helmut Kohl, Emmanuel Macron, Papst Franziskus und Wolodymyr Selenskyj.
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Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.