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Hausärzte drängen auf Reformen: „Primärarztprinzip jetzt stärken“

Hausärzte schlagen Alarm: Die Alterswelle bringe das System an die Grenze. Der Verband fordert eine Stärkung des Primärarztprinzips – doch Kritiker warnen vor Risiken und Überlastung.

Angesichts der Alterswelle fordert der Hausärzteverband von der Bundesregierung tiefgreifende Reformen im Gesundheitswesen. „Die konkreten Folgen des demografischen Wandels sind längst spürbar in unseren Praxen“, sagte Verbandschef Markus Beier am Donnerstag in Berlin zum Auftakt des Hausärztinnen- und Hausärztetags. „Wir müssen uns endlich an die großen Reformen wagen.“

Vor allem chronische Erkrankungen im Alter, komplexe Medikamentenpläne und ein steigender Behandlungsbedarf machten eine Neuordnung unvermeidlich. Beier betonte, dass eine gezielte Stärkung der hausarztzentrierten Versorgung entscheidend sei. Verbandschefin Nicola Buhlinger-Göpfarth erklärte, das Modell sei längst etabliert und habe bewiesen, dass es Komplikationen verringere, Impfquoten erhöhe und Krankenhauseinweisungen reduziere.

Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist ein verpflichtendes System vorgesehen: Zunächst soll der Haus- oder Kinderarzt kontaktiert werden, von dort aus wird ein Facharzttermin vermittelt. Bleibt dieser aus, können Patienten Fachärzte in Kliniken ambulant aufsuchen.

Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) dämpfte allerdings die Erwartungen. „Wir müssen erst schauen, dass die Strukturen da sind, weil der Hausarzt soll ja auch nicht zum Flaschenhals werden“, sagte sie im ZDF. Ziel sei mehr Steuerung und Eigenverantwortung, nicht aber eine abrupte Umstellung. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte zudem kritisiert, die Deutschen gingen mit durchschnittlich zehn Arztbesuchen pro Jahr zu oft zum Arzt.

Für zusätzlichen Zündstoff sorgte CDU-Gesundheitspolitiker Hendrik Streeck, der eine moderate Selbstbeteiligung für Arztbesuche anregte, um „Bagatelltermine“ zu reduzieren. Das rief scharfe Kritik von SPD, Grünen, Linken und Gewerkschaften hervor.

Auch Patientenschützer warnten vor einer überhasteten Einführung des Primärarztsystems. „Jetzt eine verbindliche hausarztzentrierte Versorgung anzubieten, wäre ein unkalkulierbares Risiko“, erklärte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Es fehle flächendeckend an Hausärzten, Apotheken mit Zusatzangeboten und an digitaler Infrastruktur.

Der Hausärztinnen- und Hausärztetag, der bis Freitag in Berlin läuft, beschäftigt sich mit der Zukunft der Versorgung in einem alternden Land.

OZD


OZD-Kommentar
Die Hausärzte haben recht: Ohne tiefgreifende Reformen kollabiert das System, wenn die Babyboomer alt werden. Doch die Politik laviert – der Kanzler beklagt zu viele Arztbesuche, Ministerin Warken bremst, Streeck provoziert mit Selbstbeteiligung. Was fehlt, ist ein ehrlicher Masterplan: mehr Ärzte, bessere Digitalisierung, klare Steuerung. Solange es an Kapazitäten mangelt, bleibt das Primärarztprinzip eine Illusion. Wer jetzt „große Reformen“ fordert, muss sie auch durchsetzen – sonst droht die Gesundheitskrise zum größten sozialen Sprengstoff dieses Jahrzehnts zu werden.


OZD-Analyse

Dringlichkeit der Reformen
– Demografie führt zu mehr chronischen Krankheiten
– Komplexere Versorgung, mehr Arztbesuche, steigende Kosten
– Hausärzte als Schlüsselfigur in der Steuerung

Politische Positionen
– Hausärzteverband fordert Ausbau der hausarztzentrierten Versorgung
– Bundesregierung will mehr Steuerung, aber warnt vor Überlastung
– CDU-Politiker Streeck bringt Selbstbeteiligung ins Spiel

Kritische Stimmen
– Patientenschützer warnen vor einer Pflicht ohne Strukturreformen
– Flächendeckender Ärztemangel, Apothekenkrise und fehlende Digitalisierung
– Risiko: Primärarztprinzip könnte Patienten eher blockieren als entlasten


Mini-Infobox: Arztbesuche in Europa

Deutschland: Ø 10 Arztbesuche pro Kopf/Jahr (Europarekord)

EU-Durchschnitt: ca. 6 Besuche pro Jahr

Gründe: Dichte Arztlandschaft, geringere Eigenbeteiligung

Kritik: Belastung für Kassen und Praxen

Reformidee: Primärarzt als erste Anlaufstelle


Was ist das Primärarztprinzip?
Das Primärarztprinzip sieht vor, dass Patientinnen und Patienten bei gesundheitlichen Problemen zuerst ihren Haus- oder Kinderarzt aufsuchen. Dieser koordiniert die Versorgung, überweist an Fachärzte und steuert Behandlungspläne. Ziel ist es, Doppeluntersuchungen zu vermeiden, Kosten zu senken und eine bessere Versorgung von chronisch Kranken zu gewährleisten. In vielen europäischen Ländern gilt dieses Prinzip bereits verbindlich. Kritiker warnen jedoch vor langen Wartezeiten und Überlastung der Hausarztpraxen.

Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.