Die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt in Deutschland hat 2024 einen neuen Höchststand erreicht. Der am Freitag veröffentlichte Lagebericht des Bundeskriminalamts zeigt 265.942 registrierte Opfer – ein Anstieg von 3,8 Prozent. Mehr als 70 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Für Familienministerin Karin Prien (CDU) sind diese Zahlen „dramatisch“, zumal sie das umfassende Dunkelfeld nicht erfassen.
Auch Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) reagierte mit deutlichen Worten: „Auf die Frage ‚Tut die Politik schon ausreichend viel?‘ muss die Antwort heißen: Nein.“ Trotz neuer gesetzlicher Maßnahmen wie elektronischen Fußfesseln und verpflichtenden Anti-Gewalt-Trainings fordern Gewerkschaften, Verbände und Expertinnen deutlich mehr Tempo und Ressourcen, während Richterbund und Polizei vor überlasteten Behörden warnen.
Der größte Teil der Fälle betrifft Partnerschaftsgewalt, bei der 79,3 Prozent der Opfer Frauen sind. 286 Menschen wurden im vergangenen Jahr getötet, darunter 191 Frauen. Auch Kinder sind stark betroffen: 36,7 Prozent der Fälle fallen in den Bereich innerfamiliärer Gewalt, vor allem gegen Sechs- bis 14-Jährige. Laut Prien bedeutet dies: „Pro Stunde sind in Deutschland 15 Frauen betroffen.“ Expertinnen gehen davon aus, dass nur rund fünf Prozent aller Fälle überhaupt angezeigt werden.
Das BKA verweist auf steigende Belastungsfaktoren wie Wohnraummangel und Arbeitslosigkeit sowie ein verändertes Anzeigeverhalten durch mehr Awareness-Kampagnen. Dennoch bleibt die Dunkelziffer hoch – geprägt von Angst, Scham und Abhängigkeit. BKA-Präsident Holger Münch warnte eindringlich: Gewalt in Familien und Partnerschaften sei „ein ernstzunehmendes, großes gesellschaftliches Problem“.
Parallel veröffentlichte das BKA einen Lagebericht zu spezifischer Gewalt gegen Frauen. Demnach sind 53.451 Frauen Opfer sexualisierter Gewalt geworden, während frauenfeindliche Straftaten in der politisch motivierten Kriminalität um mehr als 73 Prozent zunahmen. Auch digitale Gewalt und Menschenhandel verzeichneten steigende Fallzahlen – oft mit Überschneidungen zur häuslichen Gewalt.
OZD
OZD-Kommentar
Die aktuellen BKA-Zahlen sind nicht nur alarmierend – sie sind ein Schlag ins Gesicht einer Gesellschaft, die sich gern für aufgeklärt hält. Während die Politik neue Maßnahmen präsentiert, sterben Frauen weiterhin in ihren eigenen Wohnungen. Fußfesseln und Trainings mögen sinnvoll sein, doch sie ersetzen nicht den konsequenten Schutz der Betroffenen: mehr Plätze in Frauenhäusern, mehr Polizei, schnellere Ermittlungen, härtere Strafen. Gewalt gegen Frauen ist kein Randphänomen, sondern ein strukturelles Problem, das wir seit Jahren unterschätzen. Und solange jede Stunde 15 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt werden, ist jede politische Selbstzufriedenheit schlicht zynisch.
Mini-Infobox
265.942 Opfer häuslicher Gewalt im Jahr 2024
70,4 % der Betroffenen sind weiblich
286 Menschen durch häusliche Gewalt getötet
79,3 % der Opfer bei Partnerschaftsgewalt sind Frauen
Nur etwa 5 % der Fälle werden angezeigt
OZD-Analyse
Gesellschaftliche Dimension
– Gewalt gegen Frauen und Kinder wird zunehmend sichtbar, bleibt aber massiv untererfasst.
– Sozialer Druck, finanzielle Abhängigkeit und fehlende Schutzstrukturen verschärfen das Problem.
– Schuldumkehr und gesellschaftliche Tabus bremsen Betroffene weiterhin aus.
Politische Maßnahmen und Defizite
– a) Das neue Gewaltschutzgesetz schafft elektronische Fußfesseln und verpflichtende Trainings
– Umsetzungstempo und Ausstattung der Behörden bleiben fraglich.
– b) Der Richterbund warnt vor überlasteten Staatsanwaltschaften
– ohne Personal kein konsequenter Schutz.
– c) Prävention bleibt lückenhaft
– Schulen, Jugendämter und soziale Dienste sind entscheidend, aber chronisch unterfinanziert.
Strukturelle Herausforderungen
– Gewalt entsteht im Spannungsfeld von Abhängigkeit, sozialer Not und patriarchalen Machtstrukturen.
– Digitale Gewalt nimmt rasant zu – rechtliche Maßnahmen hinken hinterher.
– Die steigenden Fallzahlen zeigen eine Mischung aus echtem Anstieg und mehr Meldungen – beides alarmierend.
Erklärungen
Was ist häusliche Gewalt?
Häusliche Gewalt umfasst körperliche, psychische, sexuelle oder ökonomische Gewalt innerhalb von Partnerschaften oder Familien. Dazu gehören auch Stalking, Bedrohung und Tötungsdelikte. Häufig sind Frauen und Kinder betroffen.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.
Wer ist Karin Prien?
Karin Prien (CDU) ist Bundesfamilienministerin. Sie setzt sich besonders für Kinderschutz, Prävention häuslicher Gewalt und die Stärkung sozialer Hilfesysteme ein.
Was macht das BKA?
Das Bundeskriminalamt erstellt jährlich Lagebilder zu Gewaltkriminalität und koordiniert bundesweit Daten zur häuslichen und geschlechtsspezifischen Gewalt. Es arbeitet eng mit Polizei, Politik und Forschungseinrichtungen zusammen.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.
OZD-Extras
Extra: Internationale Vergleiche
Studien zeigen: Auch in anderen EU-Ländern steigt häusliche Gewalt deutlich an – besonders nach Krisen wie Wohnungsnot und wirtschaftlicher Unsicherheit. Deutschland liegt im europäischen Mittelfeld, doch die Dunkelziffer ist überall enorm.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild ozd