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Alarmstufe Jugend: Warum aus Sorgen jetzt chronische Krisen werden

Die Pandemie ist vorbei, die Angst geblieben: Bei Jugendlichen – vor allem Mädchen – verfestigen sich psychische Störungen dramatisch. Neue DAK-Daten zeigen eine alarmierende Entwicklung, die Deutschland nicht länger ignorieren darf.

Die Folgen der Lockdowns und Dauerkrisen lasten weiter schwer auf der jungen Generation – und sie verschwinden nicht mehr. Besonders Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren rutschen in eine Spirale aus Angst, Rückzug und Überforderung, wie der neue Kinder- und Jugendreport der DAK zeigt. Während Politik und Gesellschaft wieder im Alltag angekommen sind, bleiben hunderttausende Teenager in einem unsichtbaren Ausnahmezustand zurück.

Im vergangenen Jahr waren 66,5 von 1000 bei der DAK versicherten Mädchen wegen einer Angststörung in Behandlung – soziale Phobien, Panikattacken, unerklärliche Druckgefühle. Hochgerechnet betrifft das bundesweit rund 75.500 Jugendliche. Ein Anstieg um erschütternde 53 Prozent im Vergleich zu 2019. Noch bedrückender: Die Zahl der chronischen Angststörungen hat sich sogar verdoppelt.

Hinzu kommen Depressionen und Essstörungen, deren Fallzahlen ebenfalls stark gestiegen sind. 84.000 jugendliche Mädchen erhielten 2024 eine Behandlung wegen Depressionen, rund 23.000 aufgrund einer Essstörung. Magersucht und Bulimie gehören dabei zu den dominierenden Diagnosen. Viele sind mehrfach betroffen, oft verstärken sich Angst und Depression gegenseitig – ein Kreislauf, der von allein kaum zu durchbrechen ist.

Die Ursachen sind komplex, aber die Pandemie wirkt wie eine Narbe, die nicht verheilt. Isolation, fehlende Kontakte und ein rasanter Leistungsdruck haben Spuren hinterlassen. Laut dem Berliner Charité-Experten Christoph Correll sehen Ärztinnen und Ärzte heute eine „langfristige Verfestigung psychischer Störungen“. Die sozialen Medien wirken als Brandbeschleuniger. Ständig abrufbare Idealbilder erzeugen Druck, emporschraubte Erwartungen zerbrechen an der Realität.

Besorgniserregend ist, dass sich die Zahlen seit 2021 kaum bewegt haben. Seit Jahren verharren die psychischen Belastungen der Jugendlichen auf einem Plateau, das in einer aufgeklärten Gesellschaft eigentlich als Notstand gelten müsste. DAK-Vorstandschef Andreas Storm warnte, man müsse „aufpassen, dass wir nicht einen Teil dieser Generation verlieren“. Dass diese Worte nicht dramatisieren, zeigen die nüchternen Daten eindrücklich.

Viele Jugendliche haben gelernt, ihre Angst im Alltag wegzulächeln. Doch hinter diesem Schweigen wächst ein Schatten, der die Zukunft prägt – und das Land zwingt, sich endlich der Frage zu stellen, wie viel Fürsorge einer Gesellschaft ihre Heranwachsenden wirklich wert sind.
OZD



OZD-Kommentar – “Generation auf Kante: Wir ignorieren ihre Not – und riskieren ihren Absturz”

Es ist die brutale Wahrheit: Deutschland hat die Jüngsten im Sturm der Krisen allein gelassen. Während Erwachsene zurück zur Normalität eilten, blieb für Schülerinnen und Schüler wenig übrig außer Druck, Stille und digitaler Dauerbeobachtung. Dass sich Angststörungen verdoppeln und Essstörungen explodieren, ist kein medizinisches Naturereignis – es ist ein gesellschaftliches Versagen.

Die Politik reagiert mit Berichten, Arbeitsgruppen, warmen Worten. Was fehlt, ist eine Revolution der Prävention: mehr Psychologen an Schulen, niedrigschwellige Hilfe, echte digitale Aufklärung. Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen – aber wir behandeln sie, als seien sie ein appendix unseres Alltags. Wenn wir jetzt nicht handeln, zementieren wir eine verlorene Generation, die sich von uns abwendet. Und dann ist der Schaden irreparabel.


Mini-Infobox (3–5 Fakten)

53 % mehr Angststörungen bei Mädchen seit 2019

84.000 depressive Jugendliche in Behandlung (2024)

23.000 Teenagerinnen mit Essstörungen, vor allem Magersucht

Seit 2021 konstant hohe Belastungswerte ohne Entspannung

Mädchen doppelt betroffen durch soziale Medien & Pandemie-Folgen


OZD-Analyse

1. Ursachen der chronischen Belastung
a) Soziale Isolation während der Pandemie führte zu Entwicklungsbrüchen
b) Anhaltende Krisen (Inflation, Kriege, Unsicherheit) erhöhen den Grundstress
c) Soziale Medien verstärken Perfektionsdruck und Selbstkritik

2. Folgen für Gesellschaft und Bildungssystem
a) Schulabbrüche und Leistungsrückgänge häufen sich –
b) Psychische Erkrankungen werden chronisch, Therapieplätze bleiben knapp –
c) Gefahr einer „verlorenen Generation“, die Vertrauen in Institutionen verliert

3. Was jetzt politisch passieren müsste
a) Ausbau der Schulpsychologie und Wartezeitverkürzungen –
b) Massive digitale Bildungsoffensive gegen toxische Online-Kultur –
c) Stärkung der Familien und Präventionsprogramme statt symbolischer Politik



ErklärungenWer ist Christoph Correll?

Christoph Correll ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité. Er gehört zu den führenden Experten für Jugendpsychiatrie in Europa, forscht zu Langzeitfolgen psychischer Belastungen und war während der Pandemie einer der sichtbarsten Mahner, Jugendlichen stärker zu unterstützen.

Was ist der Kinder- und Jugendreport der DAK?

Der Kinder- und Jugendreport der DAK ist eine jährlich veröffentlichte Analyse der Krankenkasse über den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Auf Basis von Abrechnungsdaten werden Trends zu psychischen und körperlichen Erkrankungen sichtbar gemacht. Der Report gilt als wichtiger Gradmesser für Entwicklungen im Kinder- und Jugendschutz.

OZD-Extras

Erstaunlich, aber wahr: Bereits 10 Minuten tägliche Smartphone-Pause können nachweislich die psychische Belastung von Jugendlichen senken – erste Studien zeigen messbare Entspannungseffekte.

Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.