Angesichts der stockenden Debatte über die künftige Finanzierung der Ukraine-Hilfe hat Präsident Wolodymyr Selenskyj die Europäische Union zur Eile aufgefordert. Die Entscheidung müsse „bis Ende dieses Jahres“ fallen, sagte Selenskyj am Donnerstag am Rande des EU-Gipfels in Brüssel. Hintergrund sind Diskussionen über die Nutzung eingefrorener russischer Vermögen zur Unterstützung der Ukraine.
Selenskyj reiste persönlich nach Brüssel, um für den Vorschlag der EU-Kommission zu werben. Dieser sieht vor, dass die EU rund 200 Milliarden Euro eingefrorener russischer Zentralbankgelder als Sicherheit nutzt, sich dieses Geld leiht und davon etwa 90 Milliarden Euro als Kredit an die Ukraine weitergibt. Kiew müsste den Kredit erst dann zurückzahlen, wenn es Reparationszahlungen aus Russland erhält.
Die russischen Vermögen, die größtenteils beim in Brüssel ansässigen Finanzdienstleister Euroclear lagern, blieben eingefroren, solange die EU ihre Sanktionen gegen Moskau aufrechterhält. Russland erhielte erst nach einer Aufhebung der Sanktionen wieder Zugriff auf die Gelder.
Nach EU-Angaben droht der Ukraine in den kommenden zwei Jahren ein Finanzierungsloch von rund 135 Milliarden Euro. Bereits ab April könnte dem Land das Geld ausgehen, sollte keine neue Lösung gefunden werden. Eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, unterstützt grundsätzlich die Nutzung der russischen Vermögen.
Widerstand kommt jedoch aus Belgien. Premierminister Bart De Wever warnt vor rechtlichen und finanziellen Risiken sowie möglichen russischen Vergeltungsmaßnahmen gegen sein Land. Er fordert verbindliche und langfristige Garantien der übrigen EU-Staaten. Zwar reicht für eine Entscheidung eine qualifizierte Mehrheit, politisch gilt ein Vorgehen ohne Belgien jedoch als kaum vorstellbar.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) äußerte Verständnis für die belgischen Bedenken, betonte jedoch, er sehe „keine bessere Option“ als das geplante Reparationsdarlehen. Ein hochrangiger deutscher Regierungsvertreter sprach von „Bewegung in die richtige Richtung“, auch wenn noch keine Einigung erzielt sei.
Selenskyj warnte vor den Folgen eines Scheiterns. Ein Ausbleiben der EU-Hilfe wäre „ein großes Problem für die Ukraine“. Die Nutzung russischer Vermögen sei weniger gefährlich als ein Stopp der Unterstützung. Rechtliche Schritte Moskaus seien „nicht annähernd so beängstigend“, wie ein militärisch gestärktes Russland an den EU-Grenzen.
Zudem äußerte Selenskyj die Hoffnung auf konkrete Sicherheitsgarantien der USA. Gespräche zwischen Vertretern der Ukraine und der USA sollen am Freitag und Samstag fortgesetzt werden. Parallel kündigte das Weiße Haus Gespräche zwischen den USA und Russland über ein Ende des Ukraine-Kriegs an.
Unterdessen ordnete ein russisches Gericht an, dass die österreichische Raiffeisen Bank International 339 Millionen Euro Entschädigung an das russische Unternehmen Rasperia zahlen soll. Die Bank erklärte, der Betrag entspreche eingefrorenen Vermögenswerten infolge der EU-Sanktionen.
Erklärungen:
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist die Ukraine stark auf internationale Finanzhilfen angewiesen. Die EU sucht seit Monaten nach rechtssicheren Wegen, eingefrorene russische Vermögen zur Unterstützung Kiews zu nutzen, ohne internationales Recht zu verletzen oder Präzedenzfälle zu schaffen.
Kommentar:
Selenskyjs Appell unterstreicht den enormen Zeitdruck. Die EU steht vor einer Grundsatzentscheidung: Zögert sie weiter, riskiert sie finanzielle Instabilität in der Ukraine – handelt sie, betritt sie juristisches Neuland. Die politische Verantwortung ist klar, doch der innereuropäische Konsens bleibt fragil. Gerade deshalb wird der Dezember-Gipfel zu einem entscheidenden Moment für die Glaubwürdigkeit der europäischen Ukraine-Politik.
OZD
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