Klimaziel 2040: Brüssel erlaubt mehr Spielraum – Experten warnen vor Tricksereien mit CO2-Zertifikaten
Die Europäische Union will ihre Treibhausgasemissionen bis 2040 um 90 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 senken – doch der Weg dahin wird weicher als bisher gedacht. Ein neuer Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, dass Mitgliedsstaaten künftig einen Teil ihrer CO2-Reduktionen durch Emissionszertifikate aus Drittstaaten ausgleichen können. Diese sollen es erlauben, etwa Klimaschutzprojekte im Ausland zu finanzieren – statt eigene Emissionen radikal zu senken.
Laut dem am Mittwoch vorgelegten Gesetzesentwurf dürfen die Mitgliedstaaten ab 2036 bis zu drei Prozent ihrer Emissionsminderung über solche internationalen Mechanismen decken. Der Rest – konkret mindestens 87 Prozent der Einsparung – muss im Inland erbracht werden, durch Senkung realer Emissionen oder durch Kohlenstoffsenken wie Wälder, Moore oder technische Verfahren wie CCS (Carbon Capture and Storage).
Doch die neue Flexibilität sorgt für scharfe Kritik. Der Direktor der Denkfabrik Strategic Perspectives, Neil Makaroff, warnte vor einem gefährlichen Signal: „Das sind möglicherweise erhebliche Summen, die im Ausland ausgegeben werden, anstatt die Wende zu finanzieren.“ Grünen-Politiker Michael Bloss sprach gar von einem „Ablasshandel“ – der ausgerechnet jenen Staaten helfe, die sich dem echten Umbau verweigern.
Tatsächlich drängten mehrere EU-Staaten auf diese Schlupflöcher. Länder wie Italien, Tschechien oder Polen fürchten wirtschaftliche Schäden für ihre Schwerindustrie – und drohten mit Blockade, sollten die Ziele nicht abgeschwächt werden. Auch Frankreich drängt darauf, die Atomkraft den Erneuerbaren gleichzustellen.
Zugleich erlaubt der Vorschlag, dass Mitgliedsstaaten zwischen Sektoren ausgleichen dürfen: Bleiben etwa Emissionseinsparungen in der Landwirtschaft aus, könnten überproportionale Fortschritte im Verkehrssektor aufgerechnet werden. EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra verteidigte den Ansatz mit dem Verweis auf „unterschiedliche nationale Ausgangslagen“.
Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Das Europaparlament muss dem Vorschlag noch zustimmen, ebenso die Mitgliedsstaaten im Rat. Bis dahin dürfte der Streit über Zertifikate, Atomkraft und nationale Ausnahmeregelungen weiter eskalieren – denn viele Experten bezweifeln, dass das Zwischenziel 2040 so noch glaubwürdig erreichbar ist.
OZD
OZD-Kommentar Unglaublich verantwortungslos
Was wie eine pragmatische Lösung klingt, ist in Wahrheit ein schleichender Rückzug vom echten Klimaschutz. Mit dem Vorschlag, Emissionen über Auslandszertifikate auszugleichen, öffnet die EU der politischen Bequemlichkeit Tür und Tor. Statt den längst überfälligen Strukturwandel in Industrie, Verkehr und Landwirtschaft konsequent durchzuziehen, sollen CO2-Einsparungen einfach exportiert werden.
Die vermeintlich flexiblen Regeln sind gefährlich – nicht nur wegen des Betrugsrisikos durch Doppelzählungen und Scheinkompensation, sondern auch, weil sie den Reformdruck von schwächelnden Staaten nehmen. Wer heute seine Emissionen nicht in den Griff bekommt, kann morgen einfach bezahlen – und übermorgen erklären, dass man „alles versucht“ habe.
Besonders beunruhigend: Die EU plant diesen faulen Kompromiss, während die Welt sich auf die nächste Klimakonferenz COP30 vorbereitet. Mit einer solchen Botschaft nach Brasilien zu reisen, ist ein klimapolitischer Offenbarungseid. Europa verspielt seine Glaubwürdigkeit – für drei Prozent Schlupfloch. Unglaublich verantwortungslos!
OZD-Analyse
1. Kernpunkte des Brüsseler Klimaziels 2040
a) Reduktion um 90 % gegenüber 1990
– Davon mindestens 87 % innerhalb der EU
– Bis zu 3 % durch ausländische CO2-Zertifikate
b) Anrechnung von Kohlenstoffsenken
– Natürliche Senken wie Wälder & Meere
– Technische Verfahren wie CCS zulässig
2. Kritik an CO2-Zertifikaten aus dem Ausland
a) Risiko von Greenwashing und Betrug
– Doppelzählung bei internationalen Projekten möglich
– Keine verbindlichen EU-Qualitätsstandards
b) Fehlanreize für Staaten mit hohen Emissionen
– Industrieländer könnten auf Kompensation statt Transformation setzen
– Investitionen fließen ins Ausland, nicht in die eigene Dekarbonisierung
3. Politische Dynamik innerhalb der EU
a) Konfliktlinien zwischen Nord- und Südeuropa
– Frankreich für Atomkraftprivilegien
– Italien & Tschechien gegen harte Zielvorgaben
b) Deutschland als "ambitionierter Akteur"
– CDU-MdEP Peter Liese betont Bedeutung flexibler Mechanismen
– Bundesregierung sieht sich auf Kurs für 2030
4. Offene Fragen vor dem Beschluss
– Werden die Zertifikate tatsächlich zu CO2-Einsparungen führen?
– Wird das EU-Parlament strengere Vorgaben fordern?
– Kann ein glaubwürdiges Ziel für die COP30 entwickelt werden?
Was ist Strategic Perspectives?
Strategic Perspectives ist eine klimapolitische Denkfabrik mit Sitz in Europa, die sich auf die Bewertung und Gestaltung langfristiger Strategien zur Emissionsminderung spezialisiert hat. Sie berät Entscheidungsträger in Fragen der Klimapolitik, Regulierung und Energiewende.
Was ist Carbon Capture and Storage (CCS)?
Carbon Capture and Storage (CCS) ist ein Verfahren zur Abscheidung und dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid aus Industrieanlagen oder Kraftwerken. Das CO₂ wird dabei abgeschieden, verdichtet und tief unter der Erde – etwa in leergepumpten Gasfeldern – eingelagert.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.
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