Es ist ein Paukenschlag vor der Bühne der Vereinten Nationen in New York: António Guterres, seit 2017 Generalsekretär der UN, hat die Lage im Gazastreifen als „entsetzlich“ bezeichnet. „Dies sei die schlimmste Stufe von Tod und Zerstörung, die er in seiner Zeit als Generalsekretär und wahrscheinlich in seinem Leben gesehen habe“, erklärte er am Freitag im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP.
Seine Worte fallen unmittelbar vor dem Eintreffen von rund 140 Staats- und Regierungschefs, die kommende Woche zur Generaldebatte der UN-Vollversammlung erwartet werden. Der Gaza-Krieg wird unweigerlich zum beherrschenden Thema werden – und die Frage nach einem palästinensischen Staat sorgt bereits jetzt für Spannungen.
Frankreich und neun weitere Länder haben angekündigt, Palästina offiziell anerkennen zu wollen. Emmanuel Macron sprach von der „besten Möglichkeit, die Hamas zu isolieren“. In Paris heißt es, auch Großbritannien, Kanada, Belgien, Luxemburg, Australien, Portugal, Malta, Andorra und San Marino unterstützten den Vorstoß. Deutschland lehnt diesen Schritt bislang ab. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) stellte klar, dies sei „nicht zur Debatte“ und höchstens „einer der letzten Schritte“ auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung.
Im Gazastreifen eskaliert die Gewalt währenddessen weiter. Die israelische Armee hat ihre Bodenoffensive in der Stadt Gaza ausgeweitet. Am Freitag wurde ein zuvor für 48 Stunden geöffneter Fluchtkorridor geschlossen, stattdessen riefen die Streitkräfte die Bewohner auf, über eine Alternativroute in den Süden zu fliehen. Dabei erklärte die Armee, dass sie im Zuge der Offensive „beispiellose Gewalt“ anwende.
Die Folgen sind dramatisch: Seit Ende August haben nach Angaben der israelischen Armee 480.000 Menschen die Stadt verlassen. Laut UNO lebte dort zuvor rund eine Million Menschen. Hochhäuser wurden systematisch aus der Luft zerstört, die israelische Seite spricht von Hamas-Stellungen, doch das Ausmaß der Zerstörung trifft vor allem die Zivilbevölkerung. Guterres beschreibt „Hungersnot, völligen Mangel an wirksamer Gesundheitsversorgung, Menschen, die ohne angemessene Unterkünfte in riesigen Ballungsgebieten leben“.
Israel reagiert mit äußerster Schärfe auf die diplomatischen Initiativen aus Europa. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wirft Macron eine „Belohnung für Terror“ vor. Außenminister Gideon Saar erklärte sogar, Macron sei in Israel „nicht erwünscht“, solange er an diesen Plänen festhalte.
Der Krieg selbst dauert seit dem 7. Oktober 2023 an, als Hamas-Kämpfer Israel brutal überfielen, mehr als 1200 Menschen töteten und 251 Geiseln verschleppten. Noch immer befinden sich 47 Menschen in Gefangenschaft, 25 von ihnen sind nach israelischen Angaben tot. Die Gegenoffensive Israels forderte nach Zahlen der Hamas-Behörden mehr als 64.900 Todesopfer – eine Zahl, die sich nicht unabhängig überprüfen lässt.
Diplomatische Vermittlungsversuche der USA, Katars und Ägyptens stocken. Waffenruhe und Geiselfreilassungen sind in weiter Ferne. Guterres mahnt eindringlich: „Wir sollten uns nicht durch die Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen eingeschüchtert fühlen. Es bestehe die Chance, die internationale Gemeinschaft zu mobilisieren, um Druck auszuüben.“
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OZD-Kommentar
Die Worte des UN-Generalsekretärs sind erschütternd – und sie sind notwendig. „Entsetzlich“ beschreibt kaum die Realität im Gazastreifen, wo Hunger, Tod und Verzweiflung Alltag geworden sind. Doch während die Menschen dort unter Bomben und Blockaden leiden, verhakt sich die Weltgemeinschaft in symbolischen Gesten: Anerkennung ja oder nein, diplomatische Drohungen hier, politische Retourkutschen dort.
Die Wahrheit ist bitter: Die Zweistaatenlösung, seit Jahrzehnten beschworen, droht endgültig im Nebel der Gewalt zu verschwinden. Israel setzt auf Eskalation, westliche Länder auf halbherzige Erklärungen. Prognose: Wenn die internationale Gemeinschaft nicht in den kommenden Monaten eine gemeinsame Linie findet, werden –
– hunderttausende weitere Menschen im Gazastreifen ihre Heimat verlieren
– die diplomatischen Brücken zwischen Israel und Europa einbrechen
– und der Nahostkonflikt in eine neue, noch gefährlichere Phase eintreten.
Lesermeinungen
"Kann denn diese Mörder keiner stoppen?" Marthe Dietz, Oschersleben „Es zerreißt mir das Herz, diese Bilder aus Gaza zu sehen. Aber auch Israels Angst ist real. Beide Seiten brauchen Schutz.“ – Hannah Keller
„Die Anerkennung Palästinas ist längst überfällig. Nur so hat die Zweistaatenlösung eine Chance.“ – Markus Reinhardt
„Macron spielt mit dem Feuer. Israel fühlt sich verraten – das wird die Lage nur weiter eskalieren.“ – Peter Hoffmann
OZD-Analyse
Die Lage in Gaza
a) Militärische Eskalation: Israels Armee intensiviert Bodenoffensiven und Luftangriffe.
b) Humanitäre Katastrophe: 480.000 Geflüchtete, zerstörte Infrastruktur, Hunger und Krankheit.
c) Politische Dimension: Gaza als Symbol der Sackgasse im Nahostkonflikt.
Der diplomatische Vorstoß
– Frankreich treibt Anerkennung Palästinas voran.
– Unterstützt von neun weiteren Staaten, die Druck auf Israel erhöhen wollen.
– Deutschland bleibt zurückhaltend und verweist auf eine langfristige Lösung.
Risiken und Perspektiven
– Gefahr einer politischen Isolation Israels, sollte Anerkennung Realität werden.
– Drohende Vergeltungsmaßnahmen bis hin zur Ankündigung einer Westjordanland-Annexion.
– Die Zweistaatenlösung bleibt das erklärte Ziel, doch sie wirkt ferner denn je.
OZD-Erklärung
Wer ist António Guterres?
António Guterres, geboren 1949 in Lissabon, ist seit 2017 Generalsekretär der Vereinten Nationen. Zuvor war er Premierminister Portugals (1995–2002) und UN-Flüchtlingshochkommissar (2005–2015). Als Generalsekretär gilt er als eindringlicher Mahner in humanitären Krisen und als Befürworter multilateraler Zusammenarbeit.
Was ist die UN-Vollversammlung?
Die UN-Vollversammlung ist das zentrale Beratungsorgan der Vereinten Nationen. Jedes der 193 Mitgliedstaaten hat dort eine Stimme. In der Generaldebatte äußern Staats- und Regierungschefs jährlich ihre Positionen zu internationalen Konflikten, Frieden, Sicherheit und Entwicklung.
Was bedeutet Zweistaatenlösung?
Die Zweistaatenlösung ist ein Konzept zur Beilegung des Nahostkonflikts. Es sieht die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaates neben Israel vor, mit klar definierten Grenzen und internationaler Anerkennung. Ziel ist eine friedliche Koexistenz beider Staaten. Kritiker halten die Umsetzung jedoch angesichts der anhaltenden Gewalt für unrealistisch.
OZD
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Titelbild AFP.