Die gesetzlichen Krankenkassen gehen juristisch gegen den Bund vor: Wegen einer massiven Finanzierungslücke bei der Versicherung von Bürgergeldbeziehenden haben erste Kassen Klage beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingereicht. Der GKV-Spitzenverband kündigte am Montag an, im Namen aller Kassen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anzustreben.
Hintergrund ist ein seit Jahren ungelöster Streit um die Kostenübernahme. Bürgergeldempfänger sind in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert – doch die Beiträge, die der Staat dafür entrichtet, decken nach Angaben des GKV nur rund ein Drittel der tatsächlichen Ausgaben. Dadurch fehlten den Kassen jährlich zehn Milliarden Euro, die letztlich von den 75 Millionen Versicherten und ihren Arbeitgebern getragen werden müssen.
„Das ist unfair und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv“, erklärte Susanne Wagenmann, Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes. Versicherte und Arbeitgeber dürften nicht länger „eine staatliche Aufgabe finanzieren“. Die Klage richtet sich gegen die aktuellen Bescheide des Bundesamts für Soziale Sicherung (BAS), die die Zuweisungen für das Jahr 2026 festlegen.
Der Bund weist die Vorwürfe zurück. Das Gesundheitsministerium erklärte, die Zuweisungen entsprächen geltendem Recht und stünden „im Einklang mit dem Grundgesetz“. Auch das Arbeitsministerium verwies auf „eindeutige gesetzliche Regelungen“. Dennoch spricht die Kassenlandschaft von einer Unterfinanzierung, die seit über zehn Jahren andauere. Die Chefin des AOK-Bundesverbands, Carola Reimann, bezifferte das kumulierte Defizit auf „weit über 100 Milliarden Euro“.
Auch die Techniker Krankenkasse und die DAK übten scharfe Kritik an der Regierung. TK-Chef Jens Baas sagte, der Staat verlagere die Verantwortung „auf Beitragszahler und Arbeitgeber“. DAK-Chef Andreas Storm betonte, dass die Beiträge 2026 stabil bleiben könnten, hätte der Bund seiner Pflicht entsprochen.
Der Rechtsstreit könnte weitreichende Folgen haben: Sollte das Bundesverfassungsgericht die Finanzierungsregeln kippen, müsste der Staat Milliarden aus dem Haushalt nachschießen – in einer Phase, in der Deutschland ohnehin vor gewaltigen Budgetproblemen steht.
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OZD-Kommentar „Die Billionenfrage: Wer zahlt die soziale Pflicht des Staates?“
Dieser Konflikt ist mehr als ein Streit um Zahlen – es ist ein Angriff auf die politische Bequemlichkeit der vergangenen Jahre. Während Ministerien auf „geltendes Recht“ verweisen, präsentieren die Krankenkassen ungeschminkte Realität: Eine Sozialleistung wird seit über einem Jahrzehnt unterfinanziert, und die Rechnung zahlen diejenigen, die ohnehin schon am Limit sind.
Der Staat hat die Pflicht, Bürgergeldbeziehende voll zu versichern. Doch ausgerechnet diese Pflicht wurde stillschweigend an Beitragszahler und Arbeitgeber weitergereicht – politisch bequem, finanziell fatal. Jetzt bricht das Kartenhaus zusammen: Zehn Milliarden Euro jährlich fehlen, über 100 Milliarden hat der Staat in mehr als zehn Jahren laut Kassen de facto eingespart.
Die Klagen sind kein Affront, sondern eine Notwehr. Denn wenn das Gesundheitssystem dadurch in Schieflage gerät, trifft es am Ende alle: Patientinnen, Beitragszahler, Pflegekräfte, Kliniken. Der Staat hat eine Aufgabe vernachlässigt – und die Kassen setzen nun den Hebel an der empfindlichsten Stelle an: der Verfassungsmäßigkeit.
Die Frage ist nicht, ob der Bund nachzahlen muss. Sondern wie lange er das Problem noch ignorieren will, bis der Kollaps droht.
Mini-Infobox
Finanzierungslücke: 10 Mrd. Euro pro Jahr
Betroffene: ca. 75 Mio. gesetzlich Versicherte + Arbeitgeber
Klagen beim LSG Nordrhein-Westfalen eingereicht
GKV will Verfassungsgerichtsentscheidung
Unterdeckung laut AOK seit über 10 Jahren: >100 Mrd. Euro
OZD-Analyse
1. Der Kern des Konflikts
– a) Bürgergeldbeziehende sind gesetzlich versichert –
– b) Staat zahlt nur ein Drittel der realen Kosten –
– c) Kassen warnen vor struktureller Unterfinanzierung –
2. Politische Dimension
– a) Bundesregierung verweist auf geltendes Recht –
– b) Kassen sprechen von jahrzehntelanger Verschleppung –
– c) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könnte System erschüttern –
3. Auswirkungen auf Beitragszahler
– a) Ohne Reform drohen steigende Beiträge –
– b) Arbeitgeber warnen vor zusätzlicher Belastung –
– c) Reform könnte Milliarden aus dem Haushalt nötig machen –
Erklärungen
Was ist der GKV-Spitzenverband?
Der GKV-Spitzenverband ist die zentrale Interessenvertretung aller gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland. Er koordiniert Grundsatzfragen der Finanzierung, Versorgung und politischen Zusammenarbeit.
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Was ist das BAS (Bundesamt für Soziale Sicherung)?
Das BAS ist die Aufsichtsbehörde für gesetzliche Kranken-, Renten- und Unfallversicherung. Es legt unter anderem die jährlichen Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds fest.
OZD-Extras
Extra: Der Gesundheitsfonds – ein System unter Druck
Der Gesundheitsfonds bündelt Beiträge und verteilt sie an die Krankenkassen. Steigende Gesundheitskosten und politisch fixierte Zuweisungen erhöhen den Druck – und machen den Fonds zunehmend zum Streitpunkt zwischen Staat und Kassen.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.