Im havarierten Atomkraftwerk Tschernobyl wächst die Sorge vor einem gravierenden Sicherheitsrisiko. Nach Angaben des Kraftwerksleiters Serhij Tarakanow könnte die wichtige Reaktor-Schutzhülle bei einem weiteren russischen Angriff einstürzen. Bereits ein Raketen- oder Drohneneinschlag in der Nähe der Anlage könne ein Mini-Erdbeben auslösen, sagte Tarakanow im Gespräch mit AFP. Niemand könne garantieren, dass die bereits beschädigte Konstruktion einen solchen Schlag überstehen würde – dies sei derzeit die größte Gefahr.
Das rund 100 Kilometer nördlich von Kiew gelegene Atomkraftwerk Tschernobyl war am 26. April 1986 Schauplatz der schwersten Atomkatastrophe der Geschichte. Die Explosion eines Reaktors verseuchte weite Teile der heutigen Ukraine, Russlands und von Belarus. Seitdem wird der zerstörte Reaktorblock 4 durch massive Schutzkonstruktionen abgeschirmt.
Über dem ursprünglichen, hastig errichteten Sarkophag aus Stahl und Beton wurde in den vergangenen Jahren eine moderne äußere Schutzhülle errichtet, das sogenannte New Safe Confinement. Diese Konstruktion soll verhindern, dass radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen. Doch im Februar dieses Jahres wurde das Dach der äußeren Hülle bei einem russischen Drohnenangriff schwer beschädigt, ein Brand zerstörte Teile der Außenverkleidung.
„Unsere NSC hat mehrere ihrer Hauptfunktionen verloren“, erklärte Tarakanow. Nach Einschätzung der Betreiber werde es mindestens drei bis vier Jahre dauern, bis die Schutzfunktionen vollständig wiederhergestellt seien. Zwar seien die Strahlenwerte derzeit stabil und innerhalb normaler Grenzen, doch das größte Loch in der Hülle habe nur provisorisch abgedeckt werden können. Zusätzlich müssten noch rund 300 kleinere Schäden repariert werden.
Zu Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 hatten russische Truppen das Gelände von Tschernobyl zeitweise besetzt, später aber wieder verlassen. Andere ukrainische Atomanlagen wie Atomkraftwerk Saporischschja stehen weiterhin unter russischer Kontrolle. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, durch militärische Aktivitäten das Risiko einer neuen Nuklearkatastrophe zu erhöhen. OZD

OZD-Kommentar – Atomare Altlast im Fadenkreuz des Krieges
Tschernobyl ist kein gewöhnlicher Kriegsschauplatz, sondern ein Mahnmal globaler Verantwortung. Wer dort militärische Risiken eingeht, spielt nicht nur mit ukrainischer, sondern mit europäischer Sicherheit. Die Warnung des Kraftwerksleiters zeigt, wie fragil der Schutz ist – und wie verantwortungslos jede weitere Eskalation wäre. Ein einziger Treffer könnte reichen, um jahrzehntelange Sicherungsarbeit zu zerstören. Dass dies im Jahr 2025 überhaupt Thema ist, ist ein politisches Versagen von historischem Ausmaß.
Mini-Infobox
Ort: Atomkraftwerk Tschernobyl
Risiko: Einsturz der äußeren Schutzhülle
Ursache: Schäden durch Drohnenangriff
Reparaturdauer: mindestens 3–4 Jahre

Technische Gefahrenlage
a) Beschädigte Außenhülle mit eingeschränkter Schutzfunktion
b) Erschütterungen könnten Struktur destabilisieren
c) Hoher Reparaturaufwand unter Kriegsbedingungen
Militärischer Kontext
a) Anlage bereits Ziel russischer Drohnen
b) Keine echte Sicherheitszone um Nuklearstandorte
c) Risiko unbeabsichtigter Eskalation
Internationale Bedeutung
a) Tschernobyl als Symbol globaler Atomgefahr
b) Mögliche Auswirkungen über Landesgrenzen hinaus
c) Bedarf an internationaler Überwachung und Schutz

Was ist der New Safe Confinement?
Der New Safe Confinement ist eine riesige Stahlkonstruktion, die über
den zerstörten Reaktorblock 4 von Tschernobyl gestülpt wurde. Sie soll
radioaktive Emissionen verhindern und den alten Sarkophag stabilisieren.
Warum ist Tschernobyl weiterhin gefährlich?
Obwohl der Reaktor seit Jahrzehnten außer Betrieb ist, befinden sich im
Inneren noch hochradioaktive Materialien. Schäden an den Schutzhüllen
könnten zur Freisetzung radioaktiver Stoffe führen.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.
OZD-ExtrasDer New Safe Confinement gilt als eines der größten beweglichen Bauwerke der Welt – seine Beschädigung wäre ein Rückschlag für Jahrzehnte internationaler Sicherheitsarbeit.