Mit pathetischen Worten und eindringlicher Mahnung hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in Aachen vor Europas Selbstzufriedenheit gewarnt – und die EU zu mehr internationaler Stärke aufgefordert. Beim Festakt zur Verleihung des Karlspreises an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte Merz am Donnerstag: "Wir werden das Friedensprojekt Europa, das nach innen so erfolgreich war, weiterentwickeln müssen – zu einem Friedensprojekt auch nach außen."
Europa dürfe sich nicht länger auf der historischen Errungenschaft des inneren Friedens ausruhen, sagte der Kanzler unter großem Applaus. Es gehe nun darum, den Frieden auf dem Kontinent zu sichern und die Freiheit gegen Bedrohungen zu verteidigen. Merz betonte, Deutschland werde sich an vorderster Front an dieser Aufgabe beteiligen – militärisch, wirtschaftlich und politisch. Die Unterstützung der Ukraine sei dabei zentrales Element.
Mit Blick auf den Nato-Gipfel im Juni kündigte Merz weitreichende Entscheidungen an. Deutschland werde "Verantwortung übernehmen" und gleichzeitig die transatlantische Allianz stärken, so der CDU-Politiker. Europa müsse mehr sein als ein Binnenprojekt – es müsse sich im geopolitischen Spannungsfeld behaupten.
Er unterstrich den europäischen Wertekern: "Freiheit und Demokratie sind es wert, entschlossen verteidigt zu werden." Nur wo Macht an Recht gebunden sei, könne Tyrannei verhindert werden. Auch die Aufklärung, die jedem Menschen Würde zuspreche, sei ein untrennbarer Bestandteil der europäischen Idee.
Von der Leyen, die diesjährige Karlspreisträgerin, lobte Merz als "starke Vertreterin eines starken Europas". Sie gebe Europa "eine Stimme in der Welt – eine europäische Stimme", so Merz in seiner Laudatio. Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, der einst fragte, wen er in Europa eigentlich anrufen solle, wüsste heute ganz klar: "Er würde Ursula von der Leyen anrufen."
Abschließend versicherte der Kanzler, er selbst werde mit aller Kraft an einem Europa mitarbeiten, das "aus seinem Zusammenhalt neue Kraft schöpft" – und die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger verteidigt.
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OZD-Kommentar
Die Worte klangen staatsmännisch – doch dahinter verbirgt sich ein bemerkenswerter Wandel. Friedrich Merz, der als CDU-Chef lange als außenpolitisch spröde galt, nutzt die Bühne des Karlspreises,
um sich als europäischer Realist zu präsentieren. Europa, so seine
Botschaft, muss endlich aufwachen – nicht nur feiern, was war, sondern
sich wappnen für das, was droht.
Die Rede lässt tief blicken: Der Glaube an Frieden durch Dialog allein ist tot. Stattdessen: Frieden durch Stärke, durch Verteidigungsbereitschaft, durch geopolitisches Handeln. Merz spricht, als wolle er Europa aufrütteln – gegen Russland, gegen die Erosion von Freiheit, gegen ein weltpolitisches Abseits.
Bemerkenswert ist auch seine klare Loyalität zu Ursula von der Leyen. Ein Schulterschluss von CDU und EU, der nicht zufällig kommt – in Brüssel wird über ihre zweite Amtszeit entschieden. Der Kanzler nutzt seine Bühne, um europapolitische Geschlossenheit zu zelebrieren – und sich selbst als Gestalter zu profilieren.
Doch Worte allein werden nicht reichen. Merz muss liefern, innenpolitisch wie außenpolitisch. Sonst bleibt der Applaus von Aachen ein Echo ohne Wirkung.
OZD-Analyse
1. Die Karlspreis-Rede von Friedrich Merz
a) Inhaltliche Kernaussagen:
– Weiterentwicklung des inneren Friedensprojekts zur äußeren Sicherheitsmacht
– Europa soll Frieden garantieren, aber auch verteidigen
– Deutschland will bei Verteidigung, NATO-Beschlüssen und Ukraine-Hilfe vorangehen
b) Symbolik:
– Merz nutzt europäische Bühne zur Profilierung
– Lob an Ursula von der Leyen als Zeichen politischer Einigkeit
– Bezug auf historische Aussagen (Henry Kissinger) als Legitimationsstrategie
2. Geopolitische Einordnung
a) Europas neue Rolle:
– Merz betont: Europa muss außenpolitische Eigenständigkeit entwickeln
– Sicherheit nicht nur durch die USA, sondern durch eigenes Handeln
b) Verteidigungsausgaben & Ukraine-Politik:
– Deutschland will Verantwortung übernehmen
– NATO-Gipfel als Wendepunkt angekündigt
3. Ursula von der Leyen als Preisträgerin
a) Politisches Gewicht:
– Als Kommissionspräsidentin prägt sie maßgeblich die EU-Politik
– Symbolfigur für ein handlungsfähiges Europa in Krisenzeiten
b) Karlspreis als europäisches Signal:
– Anerkennung für ihre Führungsrolle in Pandemie, Ukrainekrieg und Klimapolitik
– Preisvergabe als politischer Schulterschluss – auch mit Blick auf EU-Wahlen
4. Historische Bedeutung des Karlspreises
a) Vergangene Preisträger:
– u. a. Winston Churchill, Jean Monnet, Helmut Kohl, Emmanuel Macron
– Preis ehrt Engagement für Einigung Europas
b) Aktueller Kontext:
– Verleihung 2025 in Zeiten globaler Unsicherheit
– Rede Merz’ als programmatischer Appell für Europas Wiedergeburt als Machtfaktor
Was ist der Karlspreis?
Der Internationale Karlspreis zu Aachen
wird seit 1950 an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die
sich um die europäische Einigung verdient gemacht haben. Der Preis
erinnert an Karl den Großen,
der Aachen als Machtzentrum nutzte und als „Vater Europas“ gilt. Die
Auszeichnung ist symbolisch hoch bedeutsam und wird jährlich im Aachener
Rathaus verliehen. Zu den Preisträgern zählen unter anderem Konrad Adenauer, Angela Merkel, Papst Franziskus und Volodymyr Selenskyj.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.