Obwohl sie längst im Exil leben, werden unabhängige Medienschaffende weiterhin vom russischen Staat verfolgt. Die Zahl der Strafverfolgungen in Abwesenheit von Journalistinnen und Journalisten im Exil hat seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 drastisch zugenommen. Reporter ohne Grenzen (RSF) warnt vor dieser Strategie, die darauf abzielt, kritische Stimmen auch jenseits der Landesgrenzen zum Schweigen zu bringen.
„Strafverfolgung in Abwesenheit ist zu einer politischen Waffe des Kreml geworden, um Medienschaffende im Exil gezielt einzuschüchtern", sagt Alena Struzh, Osteuropa-Referentin bei Reporter ohne Grenzen. „Wir fordern europäische Regierungen auf, verfolgten Exiljournalistinnen und -journalisten besseren Schutz zu gewähren."
Allein im Oktober wurden innerhalb von 48 Stunden vier Medienschaffende in Abwesenheit verurteilt: Am 2. Oktober wurden Jekaterina Kotrikadse und Walerija Ratnikowa vom Fernsehsender Dozhd in Abwesenheit zu Haftstrafen verurteilt. Beide werden beschuldigt, „Falschinformationen" über die russische Armee verbreitet sowie die Auflagen des sogenannten "Ausländische-Agenten-Gesetzes" missachtet zu haben. Beide Journalistinnen leben in den Niederlanden. Am selben Tag wurde die Doschd-Moderatorin Anna Mongait wegen regimekritischer Telegram-Posts zu fünf Jahren Haft in Abwesenheit verurteilt. Nur einen Tag später erhielt der Reporter und Aktivist Ilja Asar, inzwischen im Exil in Litauen, eine vierjährige Haftstrafe – wegen angeblicher Zusammenarbeit mit einer „unerwünschten Organisation".
Die Praxis der „Verhaftung in Abwesenheit" ist im russischen Strafrecht verankert und wird immer häufiger gegen Medienschaffende eingesetzt. Seit Februar 2022 wurden 66 Medienschaffende – durchschnittlich zwei im Monat – in Abwesenheit verurteilt, wie eine gemeinsame Analyse von RSF und der NGO Justice for Journalists zeigt. Diese Zahl umfasst nur bereits abgeschlossene Verfahren. Häufig werden die Betroffenen nicht einmal über laufende Prozesse informiert und können sich nicht verteidigen.
Repressionen über Grenzen hinaus
Eine Verurteilung in Abwesenheit macht eine Rückkehr nach Russland unmöglich. Das Exil wird damit faktisch endlos, unabhängig davon, ob Betroffene weiter journalistisch tätig sind oder nicht. Auch jegliche bürokratischen Angelegenheiten, die mit Russland in Verbindung stehen, werden erschwert. Zudem geraten Familienangehörige, die weiterhin in Russland leben, unter Druck: Ihre Wohnungen werden durchsucht, Geräte an Flughäfen und Grenzübergängen durchsucht und Kommunikation überwacht.
Die Auswirkungen solcher Urteile reichen weit über das russische Staatsgebiet hinaus. Einige Journalistinnen und Journalisten berichten, dass russische Botschaften sich weigern, neue Reisepässe auszustellen – mit der Folge, dass sie keine Visa beantragen oder erhalten können. In Ländern, mit denen der russische Staat Kooperationsabkommen geschlossen hat, drohen Abschiebungen oder Auslieferungen. Diese Praxis ist Teil einer umfassenden Strategie transnationaler Repression, mit der russische Behörden versuchen, unabhängigen russischen Journalismus im Ausland zu untergraben.
Einige in Abwesenheit verurteilte Medienschaffende wurden auch außerhalb Russlands physisch angegriffen. Der bulgarische Investigativreporter Christo Grosew und russische Journalist Roman Dobrochotow, beide von The Insider, haben bereits Mordanschläge überlebt – ein weiterer Beleg dafür, dass verurteilte Journalistinnen und Journalisten selbst im Exil im Visier der russischen Sicherheitsbehörden bleiben.
Kriegszensur und Strafverfolgung
Artikel 207.3 des russischen Strafgesetzbuches, eingeführt nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine, ist zu einem wichtigen Repressionsinstrument gegen Medienschaffende geworden: Jede Berichterstattung, die vom offiziellen Narrativ des Kremls abweicht, kann als „falsch" deklariert und als „Diskreditierung des russischen Militärs" strafrechtlich verfolgt werden.
Das sogenannte „Ausländische-Agenten-Gesetz" dient ebenfalls der Einschüchterung unabhängiger Medienschaffender. Als „ausländische Agenten" gelistete Personen und Redaktionen müssen strenge Auflagen erfüllen, etwa ihre Finanzen offenlegen und Veröffentlichungen entsprechend kennzeichnen. Die meisten, die ins Exil gezwungen wurden, können die Auflagen nicht erfüllen und leben seither im ständigen Risiko neuer Strafverfahren.
Ein im September 2025 verabschiedetes Gesetz verschärft die Bestimmungen: Schon ein einzelner Verstoß kann ein Strafverfahren auslösen, zuvor waren drei nötig. Exiljournalistinnen und -journalisten sind von solchen Verfahren regelmäßig betroffen – etwa Denis Kamaljagin, einer der ersten Journalisten, die 2020 als „ausländische Agenten" eingestuft wurden. Er wurde im Februar 2024 in Abwesenheit verhaftet. Mittlerweile umfasst die Liste der "ausländischen Agenten" mehr als 1.000 Personen und Organisationen – über ein Drittel davon sind Medienschaffende und Redaktionen.
Auch ausländische Medienschaffende betroffen
Darüber hinaus wird Artikel 322 („illegale Grenzüberschreitung") zunehmend gegen ausländische Reporterinnen und Reporter eingesetzt, die sich nach dem ukrainischen Gegenangriff in der Region Kursk aufhielten und von dort berichteten. Unter ihnen sind der CNN-Korrespondent Nick Paton Walsh, die italienischen Medienschaffenden Simone Traini und Stefania Battistini, sowie der rumänische Online-Journalist Mircea Barbu. Auch ukrainische Medienschaffende wurden in Abwesenheit verurteilt, etwa Dmytro Hordon, der 2024 eine 14-jährige Haftstrafe in Abwesenheit erhielt. Diese Urteile verstoßen klar gegen das Völkerrecht, das Journalistinnen und Journalisten in bewaffneten Konflikten besonderen Schutz zusichert.
Russland ist nicht das einzige Land, in dem juristische Strafverfolgungen in Abwesenheit als Repressionsmittel gegen Medienschaffende verwendet werden. Auch in Belarus und Aserbaidschan wurden ähnliche Fälle dokumentiert. RSF warnt vor einem globalen Trend transnationaler Repression, der die Pressefreiheit zunehmend untergräbt.
Russland belegt derzeit Platz 171 von 180 auf der Rangliste der Pressefreiheit.
Reporter ohne Grenzen
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