Zehn Jahre nach dem Flüchtlingssommer 2015 hat Angela Merkel ihre damalige Politik verteidigt. In einer ARD-Dokumentation erklärte die Altkanzlerin: „Bis jetzt haben wir viel geschafft.“ Ihren Satz „Wir schaffen das“ von 2015 habe sie bewusst im Plural formuliert, weil sie auf die Stärke der Gesellschaft gesetzt habe. Gleichzeitig räumte sie ein, dass die Entscheidung eine große Herausforderung bedeutete.
Merkel wies erneut den Vorwurf zurück, sie habe die AfD groß gemacht. Diese sei bereits in der Euro-Krise als Protestpartei entstanden, auch wenn die Flüchtlingsfrage den Aufstieg beschleunigt habe. Mit Blick auf die aktuelle Migrationswende unter Friedrich Merz warnte sie vor einer europäischen Zersplitterung durch nationale Alleingänge wie Grenzkontrollen.
Erklärung:
Merkels Bilanz ist geprägt von dem Versuch, ihre Entscheidung im Jahr 2015 als notwendig und richtig darzustellen. Sie beruft sich dabei auf Werte wie Menschenwürde und Verantwortung. Kritiker bemängeln jedoch seit Jahren, dass klare Strategien, wie Integration langfristig gelingen sollte, fehlten. Der Satz „Wir schaffen das“ wurde nicht mit konkreten Maßnahmen unterlegt – was Vertrauen kostete und politische Gräben vertiefte. Gleichzeitig war die Flüchtlingskrise ein Katalysator für den Aufstieg der AfD, die heute stärkste Oppositionskraft ist.
Deutung:
Die positive Selbsteinschätzung Merkels verdeckt, dass die gesellschaftlichen und politischen Folgen bis heute spürbar sind. Zwar ist Deutschland in der Lage gewesen, Millionen Menschen aufzunehmen und zu integrieren – sichtbar etwa im Arbeitsmarkt oder Bildungssektor. Doch ungelöste Probleme wie mangelnde Wohnraumversorgung, integrationspolitische Konflikte und eine wachsende Skepsis gegenüber staatlicher Steuerungsfähigkeit lasten auf dem Land. Zudem bleibt offen, ob Deutschland und Europa langfristig eine gemeinsame Linie in der Migrationspolitik finden können.
Bewertung:
Merkels Fazit „Bis jetzt haben wir viel geschafft“ ist nicht falsch, wirkt aber verkürzt. Vieles wurde tatsächlich geleistet – von Integrationserfolgen bis hin zu neuen Strukturen in Verwaltung und Gesellschaft. Doch die tieferen politischen Konsequenzen sind nicht von der Hand zu weisen: Der Aufstieg der AfD, eine gespaltene Gesellschaft und eine bis heute umstrittene Migrationspolitik. Merkels Hinweis auf Werte wie Menschenwürde bleibt wichtig – doch ein nüchterner Blick zeigt, dass die damalige Politik nicht nur Chancen eröffnet, sondern auch dauerhafte Bruchlinien geschaffen hat. Zehn Jahre später ist klar: „Wir“ haben einiges geschafft, aber ebenso viel noch nicht.
OZD
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Bild: AFP