Sébastien Lecornu will einen radikalen Neuanfang wagen. Nur einen Tag nach seiner Wiederernennung zum Premierminister kündigte er am Samstag in Paris an, ein Kabinett zu bilden, das „frei von parteipolitischer Gefangenschaft“ sein soll. „Ich möchte eine Regierung, die für die Sache arbeitet, nicht für Parteien“, erklärte Lecornu – ein Versuch, die tiefste Regierungskrise Frankreichs seit Jahren zu entschärfen.
Der 38-Jährige war erst am Freitag erneut von Präsident Emmanuel Macron ins Amt berufen worden, nachdem er nur vier Tage zuvor zurückgetreten war. Seine erste Regierung war nach massiver Kritik an der Zusammensetzung – zu viele alte Gesichter, zu wenig Neuanfang – binnen Tagen gescheitert. Nun soll alles anders werden.
Doch der Widerstand ist groß. Die konservativen Republikaner (LR) lehnten eine Beteiligung an der neuen Regierung kategorisch ab. „Die Voraussetzungen für Vertrauen sind nicht gegeben“, hieß es aus Parteikreisen. LR-Chef Bruno Retailleau, der derzeit kommissarisch das Innenministerium führt, warnte: „Wir dürfen uns nicht verbrennen lassen. Eine Regierungsbeteiligung würde unsere Partei entkernen.“
Lecornu steht damit vor einer Herkulesaufgabe: Er muss einen Sparhaushalt durch das Parlament bringen, während das Land mit einer Rekordverschuldung von 3,4 Billionen Euro ringt. Frankreichs Defizit liegt bei 5,8 Prozent – fast doppelt so hoch wie erlaubt. „Ich werde meine Pflicht tun, und ich werde kein Problem darstellen“, sagte Lecornu knapp.
Für Unterstützung könnte das linke Lager entscheidend werden. Die Sozialisten signalisierten Gesprächsbereitschaft – aber nur, wenn Lecornu die hochumstrittene Rentenreform von 2023 aussetzt. „Alle Debatten sind möglich“, sagte der Premier ausweichend. Doch sollte er keine Zugeständnisse machen, droht auch von links ein Misstrauensvotum.
Das politische Klima in Paris gleicht einem Pulverfass: Der rechtspopulistische Rassemblement National (RN) kündigte bereits ein sofortiges Misstrauensvotum an, während die linkspopulistische La France Insoumise (LFI) gar ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Macron einleiten will. Die Sozialisten schlossen sich dem potenziell an – sollte Lecornu „nicht sofort handeln“.
Frankreich steckt damit mitten in einer doppelten Krise – politisch und finanziell. Seit der vorgezogenen Parlamentswahl im Sommer 2024 ist das Land blockiert: Kein Lager verfügt über eine Mehrheit, das Vertrauen in die politische Mitte bröckelt. Macrons Entscheidung, Lecornu erneut zu ernennen, gilt als letzter Versuch, Neuwahlen zu vermeiden – und vielleicht auch, um seinen eigenen Rücktritt hinauszuzögern. ozd
OZD-Kommentar:
Frankreich taumelt – und Emmanuel Macron mit ihm. Lecornu mag ein
loyaler Stratege sein, doch sein Auftrag gleicht einer Mission
Impossible: ein parteifreies Kabinett in einem Land, das von politischem
Misstrauen zerfressen ist. Die Rufe nach Neuwahlen werden lauter, die
Schulden wachsen, und die Opposition wittert Blut. Lecornu kann die
Krise vielleicht verwalten, aber kaum lösen. Frankreich steht an einem
Punkt, an dem politische Stabilität nur noch auf Zeit gemietet ist. Wenn
Macron keinen Ausweg findet, könnte diese Regierung sein letztes
Manöver gewesen sein.
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Mini-Infobox:
Premierminister: Sébastien Lecornu (erneut ernannt am 4. Oktober 2025)
Ziel: Bildung eines parteiunabhängigen Kabinetts
Herausforderung: Sparhaushalt bei 3,4 Billionen Euro Staatsverschuldung
Opposition: RN und LFI kündigen Misstrauensvotum an
Rentenreform: Sozialisten fordern Aussetzung als Bedingung
OZD-Analyse:
Politische Ausgangslage
– a) Lecornu steht zwischen Macron und einer zersplitterten Nationalversammlung.
– b) Seine Wiederernennung ist ein riskanter Balanceakt.
– c) Ohne Mehrheit drohen Misstrauensvoten von mehreren Seiten.
Wirtschaftliche Dimension
– a) Frankreichs Schulden: 115 % des BIP, Defizit bei 5,8 %.
– b) EU-Grenzwerte deutlich überschritten.
– c) Sparmaßnahmen drohen neue Proteste auszulösen.
Gesellschaftliche Spannungen
– a) Rentenreform bleibt hochexplosiv.
– b) Vertrauen in die politische Mitte auf historischem Tief.
– c) Gefahr eines institutionellen Stillstands wächst.
Wer ist Sébastien Lecornu?
Sébastien Lecornu, Jahrgang 1986, ist einer der engsten politischen
Vertrauten Emmanuel Macrons. Er war zuvor Verteidigungsminister und gilt
als pragmatischer, aber machtbewusster Politiker. Seine Wiederernennung
zum Premier soll Stabilität bringen – doch seine Autorität hängt am
seidenen Faden.
Was ist der Rassemblement National (RN)?
Der Rassemblement National ist die rechtspopulistische Partei
Frankreichs, geführt von Jordan Bardella und geprägt durch Marine Le
Pen. Der RN tritt für strikte Einwanderungspolitik, Nationalismus und
EU-Skepsis ein und ist derzeit stärkste Kraft im französischen
Parlament.
OZD-Extras:
Bonus: Sollte
Lecornus Regierung erneut scheitern, wäre Emmanuel Macron laut
Verfassung gezwungen, Neuwahlen auszurufen – oder selbst den Rücktritt
zu erwägen.**
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.
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