Ein beispielloser Eklat im Bundestag hat die Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht lahmgelegt. Die SPD spricht von Hetze, die Union verteidigt sich – und das Vertrauen in die Koalition wankt.
Die geplante Neubesetzung dreier Richterposten am Bundesverfassungsgericht endete am Freitag in einem politischen Desaster. Die schwarz-rote Koalition aus Union und SPD musste alle Abstimmungen kurzfristig absagen, nachdem die Unionsfraktion die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf wegen Plagiatsvorwürfen torpedierte. Die SPD reagierte entsetzt, die Opposition spricht von einem beschädigten Parlament. Ursprünglich sollten die Juristen Brosius-Gersdorf, Ann-Katrin Kaufhold (SPD) und Günter Spinner (CDU) gewählt werden – doch alle Namen wurden von der Tagesordnung gestrichen.
Hintergrund ist ein Streit über Brosius-Gersdorf, die von CDU/CSU nicht nur wegen angeblicher Plagiate, sondern auch wegen ihrer liberalen Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen abgelehnt wird. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sprach von einer "Hetzkampagne", die einzig das Ziel gehabt habe, die Wahl scheitern zu lassen. Vizekanzler Lars Klingbeil mahnte "Führung und Verantwortung" in der Koalition an – und zielte dabei indirekt auf CDU-Chef Friedrich Merz.
Auch Justizministerin Stefanie Hubig warf der Union "Verantwortungslosigkeit" vor. Sie sprach von einem "beispiellosen Vorgang", der nicht nur das Verfahren beschädige, sondern auch "eine sehr gute Kandidatin und anerkannte Wissenschaftlerin". Dagegen verteidigte CDU-Geschäftsführer Steffen Bilger die Verschiebung mit Verweis auf die "fachliche Eignung" der Kandidatin. Auch CSU-Politiker Alexander Hoffmann betonte die "gemeinsame Verantwortung" zum Schutz des Ansehens des höchsten deutschen Gerichts.
Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann warf der Union ein "Desaster" für das Parlament vor. Ihre Co-Vorsitzende Katharina Dröge sprach von "Falschbehauptungen" gegen Brosius-Gersdorf. Beide forderten eine Sondersitzung zur Richterwahl in der kommenden Woche. Auch die Linke kritisierte CDU und Spahn heftig – während die AfD Brosius-Gersdorf als "unmöglich" abstempelte.
OZD-Kommentar
Der gescheiterte Versuch, Richterinnen und Richter für das
Bundesverfassungsgericht zu wählen, ist mehr als ein politisches
Missgeschick – er ist ein Armutszeugnis für die Regierungsfähigkeit der
Großen Koalition. Dass eine SPD-Kandidatin durch nebulöse
Plagiatsvorwürfe kurzfristig zu Fall gebracht wird, ohne dass zuvor ein
sauberer Faktencheck erfolgt ist, offenbart eine erschreckende
Instrumentalisierung moralischer Vorwürfe für parteitaktisches Kalkül.
Wer das Ansehen des Verfassungsgerichts schützen will, darf es nicht zum
Spielball innerkoalitionärer Machtkämpfe machen. Statt Geschlossenheit
zu demonstrieren, zerfleischen sich Union und SPD auf offener Bühne –
mit fatalen Folgen für das Vertrauen in die Institutionen. Wenn selbst
das höchste Gericht nicht mehr von parteipolitischer Einflussnahme
verschont bleibt, dann steht die Unabhängigkeit der Justiz auf dem
Spiel.
Lesermeinungen
"Wie soll man noch Vertrauen in die Justiz haben, wenn sich Politik über rechtsstaatliche Standards hinwegsetzt?" K-H
"Ich finde es beschämend, wie hier mit einer renommierten Wissenschaftlerin umgegangen wird – das ist Rufmord!" Ole
"Die Koalition ist völlig am Ende – wenn sie nicht einmal Verfassungsrichter wählen kann, sollte sie zurücktreten." Sebastian Deula
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OZD-Analyse
1. Der politische Eklat
– Die Richterwahl war als symbolträchtiger Akt vor der Sommerpause geplant, scheiterte aber an parteipolitischem Misstrauen.
– Die SPD hatte gehofft, mit Frauke Brosius-Gersdorf eine progressive Juristin zu etablieren.
– Die CDU/CSU hingegen nutzte moralische Zweifel als Hebel, um diese Entscheidung zu verhindern.
2. Die Koalition unter Druck
– Die SPD fühlt sich öffentlich bloßgestellt – und spricht von Verrat durch ihren eigenen Regierungspartner.
– Die Union verweist auf angeblich fehlende fachliche Eignung, doch Kritiker sehen einen vorgeschobenen Vorwand.
– Die Verschiebung offenbart die fragile Vertrauensbasis in der Koalition und könnte künftige Abstimmungen lähmen.
3. Der Schaden für die Demokratie
a) – Die Öffentlichkeit erlebt ein Parlament, das zentrale Aufgaben nicht mehr erfüllt.
– Das höchste Gericht wird in einen parteipolitischen Streit hineingezogen, was das Vertrauen in die Gewaltenteilung schwächt.
b) – Der Imageschaden für alle Beteiligten ist beträchtlich.
– Juristische Karrieren und politische Glaubwürdigkeit stehen nun gleichermaßen auf dem Spiel.
c) – Die Forderungen nach einer schnellen Neuwahl in einer Sondersitzung
sind Ausdruck der Not, das beschädigte Vertrauen zu reparieren.
Was ist das Bundesverfassungsgericht?
Das Bundesverfassungsgericht mit Sitz in Karlsruhe ist das höchste
deutsche Gericht. Es wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und
entscheidet unter anderem über Verfassungsbeschwerden, Normenkontrollen
und Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen. Die Richterinnen und
Richter werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat mit
Zweidrittelmehrheit gewählt. Ihre Unabhängigkeit ist ein Grundpfeiler
der deutschen Demokratie.
Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.
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