Tel Aviv/Jerusalem. Israel erlebt einen Tag des Protests: Tausende Menschen demonstrierten am Sonntag in Tel Aviv, Jerusalem und weiteren Städten gegen die Fortsetzung des Krieges im Gazastreifen. Sie forderten ein sofortiges Ende der Kämpfe sowie die Freilassung der Geiseln, die seit dem Hamas-Großangriff am 7. Oktober 2023 in der Gewalt der Islamisten sind.
Viele Geschäfte blieben geschlossen, Straßen wurden blockiert, und am Morgen stand sogar die wichtige Autobahnverbindung zwischen Tel Aviv und Jerusalem still. In Jerusalem entzündeten Demonstranten Reifen, es kam zu Staus und Festnahmen. Nach Angaben der Polizei wurden mehr als 30 Menschen in Gewahrsam genommen.
Das Forum der Geiselfamilien, die größte Vereinigung der Angehörigen, hatte landesweit zu Streiks und Protesten aufgerufen. „Hunderttausende israelische Bürger werden heute das Land mit einer klaren Forderung lahmlegen“, erklärte die Organisation. Ihre Botschaft: „Bringt die Geiseln zurück, beendet den Krieg.“ Auf dem „Platz der Geiseln“ in Tel Aviv hing eine riesige israelische Flagge mit den Porträts der Entführten, Familien hielten Fotos ihrer Angehörigen hoch und schwenkten gelbe Fahnen – die Symbolfarbe für die verschleppten Geiseln.
Regierung setzt auf Eskalation
Parallel zu den Protesten verkündete das israelische Sicherheitskabinett die Ausweitung der Militäroperationen im Gazastreifen. Armeechef Ejal Samir gab die Genehmigung für die „nächste Phase“ der Angriffe: Die Evakuierung und Umzingelung der Stadt Gaza, gefolgt von einer Einnahme. Auch Flüchtlingslager im Zentrum des Küstenstreifens sollen betroffen sein.
Nach Angaben der Armee sollen die Geiseln dabei „immer die erste Sorge“ bleiben. Doch für die Familien ist das kaum glaubwürdig. Sie fürchten, dass ein massiver Vormarsch die Überlebenschancen der noch festgehaltenen 49 Geiseln verringert. Die Armee geht selbst davon aus, dass nur noch 22 von ihnen am Leben sind.
Netanjahu attackiert Demonstranten
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagierte mit scharfer Kritik auf die landesweiten Proteste. Er warf den Demonstranten vor, „die Position der Hamas zu verhärten, die Freilassung der Geiseln zu verzögern und sicherzustellen, dass sich die Gräueltaten des 7. Oktober wiederholen“. Viele Familien empörte dieser Vorwurf – sie sehen sich im Gegenteil als letzte Stimme der Geiseln, die in den politischen und militärischen Strategien der Regierung kaum noch Gehör finden.
Eskalation und Opferzahlen
Der von der Hamas kontrollierte Zivilschutz im Gazastreifen meldete am Sonntag mindestens 18 Tote durch israelische Angriffe, darunter sieben Menschen, die beim Warten auf Hilfsgüter starben. Nach Angaben der Hamas-Behörden sind seit Beginn der israelischen Militäroperationen mehr als 61.900 Menschen getötet worden. Diese Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen, werden jedoch von den Vereinten Nationen als plausibel eingestuft.
Die Hamas hatte mit ihrem Angriff am 7. Oktober 2023 den Krieg ausgelöst. Damals wurden nach israelischen Angaben mehr als 1200 Menschen getötet und 251 als Geiseln verschleppt. Dass heute, fast ein Jahr später, noch immer Dutzende Menschen in den Händen der Hamas sind, zeigt, wie wenig Fortschritte die israelische Regierung bei der Rettung erzielt hat.
Kommentar
Die Proteste vom Sonntag markieren eine neue Zäsur im israelischen Diskurs. Immer mehr Bürger stellen offen infrage, ob Netanjahus Kurs der Eskalation tatsächlich der richtige Weg ist. Die Familien der Geiseln fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen – sie sehen, dass militärische Siege beschworen, aber keine Leben gerettet werden.
Netanjahus Vorwurf, die Protestierenden stärkten die Hamas, wirkt wie ein Versuch, jede Kritik zu delegitimieren. Doch in Wahrheit drückt der Protest ein wachsendes Misstrauen aus: Misstrauen gegenüber einer Regierung, die den Krieg offenbar unbegrenzt verlängern will, während die eigenen Bürger als Geiseln in Lebensgefahr schweben.
Die israelische Gesellschaft steht damit vor einer Zerreißprobe. Je länger der Krieg dauert, desto stärker wird die Kluft zwischen der Führung, die auf militärische Stärke setzt, und den Bürgern, die ein Ende des Blutvergießens und die Rückkehr der Geiseln fordern. Klar ist: Ohne eine politische Lösung, die sowohl Sicherheit als auch Humanität berücksichtigt, droht Israel nicht nur militärisch, sondern auch gesellschaftlich weiter zu erodieren.
OZD
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Bild: AFP