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Jenseits der Staatsräson? Experten fordern radikale Wende der deutschen Israel-Politik

Über 100 Nahost-Experten stellen die deutsche Staatsräson infrage. Ihr Positionspapier fordert einen Kurswechsel im Umgang mit Israel – und rüttelt an einem zentralen Grundsatz deutscher Außenpolitik.

Angesichts des anhaltenden Krieges in Gaza haben mehr als 100 Nahost-Experten eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Israel-Politik verlangt. In einem Positionspapier mit dem Titel „Jenseits der Staatsräson“, das am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde, fordern sie, Deutschlands Verantwortung müsse internationalem Recht und Menschenrechten dienen – nicht der uneingeschränkten Unterstützung einer israelischen Regierung.

Der Begriff „Staatsräson“ wurde 2008 von Kanzlerin Angela Merkel geprägt, als sie die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erklärte. Kritiker werfen der Bundesregierung nun vor, diese Formel werde missbraucht, um israel-kritische Maßnahmen zu verhindern. Im Papier ist von einem „vordemokratischen Begriff“ die Rede, der rechtliche und moralische Verpflichtungen Deutschlands verdrängt habe.

„Israels Zerstörung des Gazastreifens“ habe die Grenzen dieser Doktrin offengelegt, sagte der Jurist Alexander Schwarz bei der Präsentation. Die Politologin Muriel Asseburg betonte: „Die Verantwortung aus der Schoa gilt in erster Linie Jüdinnen und Juden, nicht einer Regierung.“ Der Leitsatz „Nie Wieder“ müsse universell gelten, als Verpflichtung für Menschenrechte und Völkerrecht.

Die Experten fordern konkrete Schritte: ein EU-Importverbot für Siedlungsprodukte, ein sofortiges Waffenembargo gegen Israel, die Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 und eine verstärkte Unterstützung des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA. Auch innenpolitisch soll sich Deutschland neu ausrichten – etwa durch eine Neubewertung der umstrittenen BDS-Bewegung.

Unter den Unterzeichnern sind namhafte Persönlichkeiten wie der frühere EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, der ehemalige israelische Parlamentspräsident Avraham Burg und Nahost-Experte Daniel Gerlach. Das Papier wurde von Muriel Asseburg und dem Diplomaten Philip Holzapfel federführend verfasst.

OZD


OZD-Kommentar

Dieses Papier ist Sprengstoff. Erstmals wird die deutsche Staatsräson, jahrzehntelang unantastbar, frontal in Frage gestellt. Die Forderungen reichen vom Waffenembargo bis zur Anerkennung Palästinas – Schritte, die Deutschland international isolieren könnten, aber zugleich den Bruch mit einem blinden Automatismus markieren würden. Die Frage lautet: Kann Deutschland es sich noch leisten, in der Nahostpolitik hinter historischen Formeln Schutz zu suchen? Oder zwingt der Krieg in Gaza das Land zu einer neuen Ehrlichkeit, auch auf Kosten der Beziehungen zu Israel? Die kommenden Monate werden zeigen, ob Berlin bereit ist, den Preis für eine Neuausrichtung zu zahlen – oder ob alles beim Alten bleibt.


OZD-Analyse

1. Historischer Hintergrund

Begriff „Staatsräson“ durch Angela Merkel 2008 geprägt

Sicherheit Israels als unverrückbarer Grundsatz deutscher Außenpolitik

Kritik: rechtliche und moralische Verpflichtungen treten in den Hintergrund

2. Forderungen des Papiers

EU-Importverbot für Siedlungsprodukte

Waffen- und Dual-Use-Exportstopp an Israel

Anerkennung eines palästinensischen Staates (Grenzen von 1967)

Ausbau der UNRWA-Finanzierung

Schutz für Journalisten und UN-Mitarbeiter in Gaza


Neubewertung der BDS-Bewegung in Deutschland

3. Politische Folgen
a) Außenpolitik
– Bruch mit jahrzehntelanger Israel-Politik
– Spannungen mit den USA und Teilen der EU wahrscheinlich

b) Innenpolitik
– Konflikt über Antisemitismus-Definition und BDS
– Debatte über Erinnerungskultur und politische Verantwortung

c) Gesellschaft
– Polarisierung zwischen Solidarität mit Israel und Solidarität mit Palästina
– Gefahr einer weiteren gesellschaftlichen Radikalisierung


Mini-Infobox

Titel des Positionspapiers: „Jenseits der Staatsräson“

Unterzeichner: über 100 Nahost-Experten

Forderungen: Waffenembargo, Importverbot, Anerkennung Palästinas

Prominente Unterstützer: Josep Borrell, Avraham Burg, Daniel Gerlach

Hauptautor:innen: Muriel Asseburg, Philip Holzapfel


Wer ist Muriel Asseburg?
Muriel Asseburg ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Nahost-Expertin. Sie arbeitet seit vielen Jahren bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und gilt als eine der profiliertesten Stimmen in der deutschen Debatte über Israel und Palästina. Asseburg beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der israelischen und palästinensischen Politik, der Friedensprozessdiplomatie und Fragen des Völkerrechts.


Was ist die BDS-Bewegung?
Die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) wurde 2005 von palästinensischen Gruppen ins Leben gerufen. Sie fordert einen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Boykott Israels, solange die Besatzung palästinensischer Gebiete andauert. Während Befürworter BDS als gewaltfreie Protestform ansehen, wird die Bewegung in Deutschland von Politik und Verfassungsschutz als antisemitisch eingestuft.


Was meint Staatsräson gegenüber Israel? 

Die deutsche Staatsräson in Bezug auf Israel bedeutet, dass die Sicherheit und das Existenzrecht Israels ein besonders herausgehobenes Interesse und eine politische Verpflichtung für den deutschen Staat sind. Dieser Grundsatz ist historisch vor allem aus der Verantwortung Deutschlands für den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus entstanden.

In der Praxis heißt das: Deutschland stellt sich politisch eindeutig an die Seite Israels, unterstützt dessen Recht auf Selbstverteidigung und sieht es als eine zentrale Staatsaufgabe an, für die Sicherheit Israels einzutreten. Auch die aktuelle Bundesregierung betont diesen Grundsatz immer wieder – die Sicherheit Israels ist offiziell „deutsche Staatsräson“ und „niemals verhandelbar“

Das Prinzip ist jedoch politisch und moralisch geprägt, nicht juristisch exakt definiert. Es besteht kein automatischer militärischer Beistandszwang, sondern vor allem eine sehr klare politische und moralische Priorität, Israel in existenziellen Bedrohungslagen zu unterstützen und auf dessen Sicherheit zu achten.


Alle Angaben ohne Gewähr. Titelbild AFP.