Emmanuel Macron spricht unbequeme Wahrheiten aus. Dass er sie ausgerechnet in Deutschland formuliert, am Tag der Deutschen Einheit, macht die Worte umso gewichtiger. Der französische Präsident diagnostiziert nichts weniger als einen inneren Erosionsprozess westlicher Demokratien – eine Warnung, die kaum überhört werden darf.
Haltung
Macron stellt sich klar gegen Selbstzufriedenheit. Seine Rede ist kein höfliches Protokoll, sondern ein Weckruf: Demokratien bröckeln nicht durch äußere Feinde, sondern von innen – durch Gleichgültigkeit, digitale Desinformation und politische Erschöpfung. Damit trifft er einen Nerv, auch in Deutschland.
Kontext
Beim Festakt in Saarbrücken, wo Macron als Ehrengast zum 35. Jahrestag der Wiedervereinigung sprach, spannte er den Bogen von Demokratie und Medienkritik bis hin zur europäischen Verteidigung.
Er mahnte an, dass soziale Netzwerke zum Einfallstor für Propaganda geworden seien – ausgenutzt von autoritären Regimen. Europas Naivität, wie er sagte, habe Demokratien anfällig gemacht.
Sein Ruf nach einer eigenständigen europäischen Verteidigung ist zugleich eine Absage an Abhängigkeiten von den USA oder China. Das Ziel: strategische Autonomie.
Analyse
Macrons Botschaft lässt sich in zwei Linien lesen:
Erstens – Demokratie braucht Selbstschutz. In einer Zeit, in der Lügen schneller reisen als Fakten, wird digitale Souveränität zur Überlebensfrage. Die Kritik an der Macht US-amerikanischer und chinesischer Plattformen ist berechtigt – aber auch unbequem, solange Europa selbst keine Alternativen bietet.
Zweitens – Europas Sicherheit muss europäisch gedacht werden. Sein Appell zur „Wiederaufrüstung“ meint nicht Militarisierung, sondern Selbstbehauptung. In Zeiten globaler Unsicherheit kann ein handlungsfähiges Europa nicht nur Zuschauer sein.
Gleichzeitig stößt sein Ton in Deutschland auf gemischte Reaktionen. Während viele den Weckruf begrüßen, sehen andere – wie Angela Merkel – darin ein Signal, das auch Stimmen aus Osteuropa hätte einbinden sollen.
Schluss
Macrons Rede war mehr als symbolische Diplomatie. Sie war eine politische Standortbestimmung Europas in unruhigen Zeiten – und ein Spiegel für Deutschlands eigene Fragen nach Verantwortung, Wehrhaftigkeit und digitaler Selbstbestimmung.
Wenn Demokratien wirklich in Verfall geraten, dann nicht, weil sie angegriffen werden – sondern weil sie vergessen, sich zu verteidigen.
OZD
Alle Angaben ohne Gewähr.
Bild: AFP